Die EU im Spannungsfeld von offenen Grenzen und einer ‚Festung Europa‘ (20.06.2016)

Die EU im Spannungsfeld von offenen Grenzen und einer ‚Festung Europa‘ (20.06.2016)

Am Weltflüchtlingstag, dem 20. Juni 2016, eröffnete das Europe Direct Dortmund seine Veranstaltungsreihe „(Neue) Heimat Europa? Die EU-Flüchtlingspolitik im Fokus“ mit einem Abendvortrag zur EU-Grenzpolitik. Unter dem Titel „Die EU im Spannungsfeld von offenen Grenzen und einer ‚Festung Europa‘“ diskutierte der Referent, Prof. Dr. Thorsten Müller, ausführlich mit den anwesenden Gästen. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Stadt Dortmund, dem Europaminister des Landes NRW und Chef der Staatskanzlei, Franz-Josef Lersch-Mense, sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt.

Grußworte vom Präsident der Auslandsgesellschaft und von der Staatskanzlei NRW

Eröffnet wurde der Abend von Klaus Wegener, Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V., sowie Bodo Wißen von der Staatskanzlei NRW. Am Veranstaltungstag selbst wurden aktuelle Zahlen veröffentlicht, nach denen sich rund 65 Mio. Menschen weltweit auf der Flucht befinden – mehr als nach dem 2. Weltkrieg. Vor diesem Hintergrund betonten Wegener und Wißen, dass es sich hier um eine Angelegenheit handele, die uns langfristig beschäftigen und unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen und verändern werde.

Emotionalisierung und Polarisierung der Debatte um Geflüchtete

Der Großteil der Flüchtenden weltweit wandere innerhalb der eigenen Heimatländer oder in die Anrainerstaaten, so Prof. Dr. Thorsten Müller zu Beginn seines Vortrags. Für das Jahr 2016 (Stand: 17. Juni 2016) lägen die Zahlen der Neuankömmlinge in Europa über See bei bisher etwa 200.000 Menschen. Diese würden im Sommer – wetterbedingt und nicht bedingt durch eine verschlechterte Situation in ihren Herkunftsländern – jedoch noch einmal ansteigen. Die Menschen kämen momentan über zwei Hauptrouten nach Europa: über Libyen und die Türkei nach Osteuropa sowie über Nordafrika nach Südeuropa.
Das Gespräch um die ankommenden Geflüchteten und die Situation in ihren Herkunftsländern, konstatierte Müller, sei nicht mehr allein Gegenstand politischer oder wissenschaftlicher Diskurse, sondern längst mitten in der Gesellschaft angekommen. Die Bürger_innen seien ob der Zahlen und Probleme, mit denen sie über Medien und Öffentlichkeit konfrontiert werden, besorgt und wollen Lösungen sehen. Europa befinde sich hier in der Zwickmühle, adäquate Antworten zu geben.
Verschärft werde diese Situation vor dem Hintergrund einer Renationalisierungswelle in Europa, die mit einer Antieuropastimmung einhergehe.
Zudem werde es laut Müller in einer globalisierten Welt immer Flucht und Vertreibung geben, sie seien in einer solchen ein Normalzustand. In dieser werden Europa und die EU – als Orte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von Freiheit und Wohlstand, von innerer und äußerer sowie sozialer Sicherheit – auch immer attraktive Ziele bleiben.

‚Festung Europa‘?

Die sog. Festung Europa, so Müller, habe eigentlich nie Bestand gehabt. Es wären vielmehr die Regierungen der Länder vor den europäischen Grenzen (v.a. Tunesien, Libyen, Ägypten) gewesen, die diese Festung aufrechterhalten haben. Mit den Unruhen ab 2011 sei dieses sichere Umfeld weggebrochen und die ‚Festung‘ habe infolgedessen nicht mehr funktionieren können.
Geschäftsgrundlage der offenen Grenzen innerhalb der EU, so fügte Müller hinzu, bilden geschützte Außengrenzen – auch vertraglich von den Mitgliedstaaten beschlossen. In den Diskussionen hierum befindet sich die EU in einem Dilemma: Einerseits sei man rechtlich dazu angehalten, die ‚Festung Europa‘ zu schützen und sich abzuschotten, andererseits fordere die Grenze jedoch auch Tote. „Das ist für uns als Wertegemeinschaft EU jedoch schwer zu ertragen.“, wie Müller hervorhob.

Funktionsfähigkeit der EU

Die Defizite der in der Vergangenheit getroffenen Regelungen sowie der innereuropäischen ‚Solidarität‘ seien durch die Flüchtlingssituation aufgedeckt worden: Regelungen, wie das Schengener Abkommen und die Dublin-Verordnung, seien nur in Zeiten geringer Probleme funktionsfähig. Ebenso nehme Frontex nur eine Dienstleisterrolle wahr und ist von den EU-Staaten an den Außengrenzen abhängig.
Darüber hinaus entscheide sich die Wirksamkeit des EU-Grenzschutzes laut Müller nicht ausschließlich in der EU, nicht an der Zaunhöhe, nicht daran, ob wir die Fluchtursachen bekämpfen und auch nicht an den Kompetenzzuweisungen an Frontex. Sie entscheide sich vielmehr in den Staaten, aus denen geflohen werde. Die Interdependenz der EU zu den Herkunftsstaaten sei so groß, dass die EU alleine die Situation nicht beeinflussen könne. Diese Tatsache enthebe sie jedoch nicht ihrer Verantwortung.

Maßnahmen der EU

Schon im Mai 2015 hat die Europäische Kommission eine Migrationsstrategie mit ausführlichen Maßnahmen der Soforthilfe sowie mittel- und langfristigen Lösungsansätzen vorgelegt. Dieser Vorschlag befinde sich seit über einem Jahr auf dem Tisch, die Mitgliedstaaten diskutieren aber immer noch über einzelne Punkte.
Die Idee eines Verteilungsschlüssels, angepasst an den Königsteiner Schlüssel, ist schon abgelehnt worden.
Fördergelder von insgesamt 9,2 Mrd. Euro aus dem EU-Haushalt hingegen wurden freigegeben: 4 Mrd. Euro davon gingen an Syrien, 1,8 Mrd. Euro zur Ursachenbekämpfung nach Afrika. Auch Deutschland hat aus diesem Topf Gelder bezogen.
Zudem wurde die Errichtung von Hotspots an den EU-Außengrenzen beschlossen sowie die Organisation von Rückführungen.
Im September 2015 einigte man sich außerdem darauf, 160.000 Geflüchtete innerhalb von 2 Jahren aus den am stärksten betroffenen Ländern, wie Griechenland oder Italien, innerhalb Europas umzusiedeln. Bis zum 14. Juni 2016 sind von den 160.000 Geflüchteten 2.280 Menschen umgezogen.
Das Ergebnis der Maßnahmen stellt sich demnach sehr ernüchternd dar.
„Die EU ist nicht das Problem.“, betonte Müller ausdrücklich. Sie setze die beschlossenen Maßnahmen in ihrem Kompetenzbereich um. Die Mitgliedstaaten zeigen jedoch keine Solidarität untereinander und setzen die vereinbarten Maßnahmen nicht um.

Handlungsempfehlungen für die EU

Welche Lösungsvorschläge postuliert der Referent vor diesem Hintergrund?
Zunächst müsse man in der EU eine tatsächliche gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik schaffen. Was momentan vorliege, sei ein „Flickenteppich“, der auf Dauer nicht funktionieren könne. Die Schaffung einer legalen Einwanderung nach Europa werde langfristig gesehen dringend benötigt.
Darüber hinaus müsse die supranationale Grenzschutzbehörde Frontex laut Müller ausgebaut werden und den nationalen Grenzschutz der jeweiligen Mitgliedstaaten ersetzen. Auf diese Weise könne man den Bürger_innen mehr Sicherheit geben und Ängste abbauen.
„Europa neu denken“ ist schließlich die – nach eigenen Worten des Referenten – ambitionierteste und unwahrscheinlichste Handlungsempfehlung Müllers. Dies würde zu Beginn in manchen Bereichen zunächst einen Abbau der Europäischen Integration bedeuten, wäre auf lange Sicht betrachtet jedoch eine Möglichkeit, um Europa wieder enger zusammenwachsen zu lassen.

Ausführliche Diskussionen mit den Gästen

Im Anschluss an Müllers hochinformativen Vortrag entwickelte sich eine lebhafte Diskussion mit den anwesenden Gästen. Hier ging es u.a. um die Wirtschaftspolitik der EU und ihre Auswirkungen auf die afrikanischen Staaten, um die Integration und Teilhabe der nach Europa geflüchteten Menschen sowie die Beziehungen der EU zur Türkei. Ein wichtiger Diskussionsschwerpunkt betraf darüber hinaus den IS-Terrorismus und die Angst der europäischen Bürger_innen, dass Terrorist_innen unter den Geflüchteten nach Europa und Deutschland eingeschleust werden. Müller fand hier klare Worte: Westeuropa haben genug ‚eigene‘ Terrorist_innen großgezogen und sei diesbezüglich Exportweltmeister. Es könne sich daher kaum beschweren; vielmehr seien es die Syrer_innen, die sich über den Export von Terrorist_innen aus Europa beklagen könnten.

Der Referent

Prof. Dr. Thorsten Müller lehrt Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW. Er befasst sich vorrangig mit Fragen der Europäisierung der Inneren Sicherheit und Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus in der EU. Er ist Mitglied im Team Europe der Europäischen Kommission.

Unsere Kooperationspartner:

  • Auslandsgesellschaft NRW e.V.
  • Stadt Dortmund
  • Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen
  • Konrad-Adenauer-Stiftung Regionalbüro Westfalen

 

Text: Lena Borgstedt, Auslandsgesellschaft NRW e.V.
Foto: © Dominic Melang, Auslandsgesellschaft NRW e.V.