17_06_26 MissVerständnis Europa

„(Miss-)Verständnis Europa“ – Diskussion zur Zukunft Europas (26.06.2017)

Führt der Weg Europas zu einer Sozialunion und wie kann diese gelingen? Fühlt man sich als Europäer*in oder mehr seiner Nation zugehörig und woran liegt das? Ist eine europäische Republik erstrebenswert?
Diese und viele weitere Fragen zur Zukunft Europas wurden in drei Europa Cafés und einer Podiumsdiskussion am letzten Montag versucht zu beantworten.

Die Europa Cafés wurden von Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani (Fachbereich Sozialwesen an der FH Münster), Dr. Steffen Lehndorff (Institut Arbeit und Qualifikation IAQ an der Universität Duisburg-Essen) und Dr. Stefan Thierse (Institut für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf) geleitet. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Helle Becker (Expertise & Kommunikation für Bildung).
Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Auslandsgesellschaft NRW e.V., dem DGB Dortmund-Hellweg und der Stadt Dortmund statt und wurde vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gefördert.

DSC_0032Von links: Lena Borgstedt (Europe Direct Dortmund), Conny Irle (Stadt Dortmund), Dr. Stefan Thierse (Institut für Politikwissenschaft, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf), Dr. Helle Becker (Expertise & Kommunikation für Bildung), Herbert Prigge (Pulse of Europe Dortmund), Birgit Jörder (Bürgermeisterin Stadt Dortmund), Dr. Steffen Lehndorff (Institut Arbeit und Qualifikation IAQ, Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani (Fachbereich Sozialwesen, FH Münster), Klaus Wegener (Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V.) und Nejra Dedić (Politische Bildung, Auslandsgesellschaft NRW e.V.).

Eröffnet wurde die Veranstaltung im Dortmunder Rathaus von Birgit Jörder, Bürgermeisterin der Stadt Dortmund. Sie lobte die „Europäische Methode“ und die EU, die ein beeindruckendes Friedensprojekt sei und über eine Wirtschaftsunion hinausgehe. Dennoch würden ihr viele Missverständnisse anhaften: So beispielsweise hinsichtlich ihrer Handlungskompetenzen im Rahmen der Flüchtlingssituation oder den Eindruck von einem angeblich riesigen Verwaltungsapparat, aber auch absurde Normsetzungen. Sie betonte daher, wie wichtig es sei, sich nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen, sondern sich immer weiter für die Zukunft Europas anzustrengen, zu informieren und zu engagieren.

Klaus Wegener, Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V., erklärte, dass Europa für ihn nicht missverständlich sei, sondern oft zu selbstverständlich. Nach Wegener könne man die junge Generation mit 70 Jahren Frieden nicht mehr „hinter dem Ofen hervorholen“ und würde damit nur noch Gähnen ernten. Er hob hervor, wie wichtig es sei, dass sich die EU dramatisch verändere – hin zu einer Sozialunion.

Im Anschluss wurden die Gäste in drei Gruppen aufgeteilt, in denen sie die Europa Cafés des Abends durchliefen und miteinander über deren Themen diskutierten.

Café 1: Ich bin Europäer*in – und du? – Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

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Unter Regie von Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ging es darum, ob es eine europäische Identität gibt, was typisch für diese ist und ob man sich überhaupt europäisch fühlen kann. Dabei entstand eine lebhafte Diskussion unter den zahlreichen Gästen, deren Perspektiven und Meinungen zum Teil nicht kontroverser sein konnten. Dies zeigt, dass es sich um eine Thematik handelt, zu der es kein einheitliches Bild gibt und die tiefergehend behandelt werden sollte.
Auf der einen Seite wurde Europa als Wertegemeinschaft – unter anderem durch die Orientierung an den Werten der Französischen Revolution – begriffen. Solidarität, gemeinsame Visionen, das persönliche Agreement auf dem Weg zu einer europäischen Gemeinschaft, ein Gemeinschaftsgefühl, in der das Gemeinsame versucht wird weiter zu stärken, Europa als Spirit – alles Attribute, die für ein kollektives, europäisches Denken sprechen.
Kritische Stimmen kamen allerdings auch zu Wort. „Das, was man unter Europa versteht, ist sehr unterschiedlich. Je nach dem, in welchem europäischen Land man sich befindet…“, so El-Mafaalani. Europa funktioniere nicht als Zufluchtskategorie, es herrsche eine Diskrepanz. Des Weiteren gäbe es eine Übersättigung an Offenheit, welche zu einer Gegenbewegung, einer Rückbesinnung – selbst über die Nationen hinaus – führe. Sich als Europäer*innen zu sehen, das taten die meisten der Teilnehmenden. Sich als solche zu fühlen, fiel ihnen jedoch größtenteils schwer.
Es herrschten zwiespältige Meinungen: Individuelle oder kollektive Identifikation? Schützenswert oder kulturell nicht schützenswert? Zweifel an der EU, aber Identifikation mit Europa? Ist das europäische Gefühl eine Generationenfrage?
Nach dieser Diskussionsrunde stellten einige Tagungsgäste fest, dass sie vorher nie wirklich über diese doch essentielle Frage, ob und wie stark ihre europäische Identität ausgeprägt ist, nachgedacht haben. Viele suggerierten allerdings auch den Eindruck, sich für eine einzige Identität bereits entschieden zu haben, respektive sich entscheiden zu müssen. Aber ist es nicht normal, mehr als eine Identität zu besitzen?

Café 2: Europa neu denken – Weg von der Wirtschaftsunion hin zu einer Sozialunion? – Dr. Steffen Lehndorff

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Dr. Steffen Lehndorff betonte eingangs, dass es ein komplizierter und langer Weg mit vielen Reformen sei, bis sich aus einer Wirtschaftsunion eine Sozialunion entwickeln könne. Essentiell sei es, schwächere Regionen zu stärken, die Steuerpolitik zu reformieren und gemeinsame Sozialstandards – wie einen europäischen Mindestlohn – zu schaffen.
Die Teilnehmer*innen diskutierten anschließend, ob es der richtige Weg sei, eine Sozialunion anzustreben, wenn die Wirtschaftsunion noch nicht komplett vervollständigt sei. Eine Teilnehmerin schlug vor, eine Sozialunion über eine Werteunion mit ideellen Gemeinsamkeiten als Zwischenschritt zu erreichen. Nach Lehndorff wäre eine Werteunion „schön, aber das Schwierigste überhaupt“. Er stellte die Idee einer Solidaritätsunion in den Raum und begründete sie mit dem Grundsatz: „Was uns nützt, ist auch gut für die anderen. Was gut für die anderen ist, ist auch wieder gut für uns.“
Ein weiterer, rege diskutierter Punkt war die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten und ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Viele Teilnehmer*innen sowie der „Host“ des Europa Cafés sahen die Chancen einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen schwächeren und stärkeren Mitgliedsstaaten, aber auch, dass diese schwer zu erreichen sei und die Gefahr bestünde, dass nur die Elite zusammenarbeiten und schwächere Staaten isoliert würden.

Café 3: Die europäische Republik – aus und vorbei? – Dr. Stefan Thierse

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Im dritten Europa Café ging es um die Frage, was eine europäische Republik ist, wie sie aussehen sollte, ob sie erstrebenswert ist und was die Bürger*innen persönlich tun können, um Europa zur res publica – also zur gemeinsamen Sache – zu machen.
Diskutiert wurden zunächst verschiedene Staatsformen, wie eine „Staatsform Europa“, die „Vereinigten Staaten von Europa“ und die EU als spezielle neue Form. Eine weitere Idee war es, vor die Europäische Republik als Zwischenstufe eine „lernende Republik“ zu setzen, d.h. eine Republik, die nicht mit einem statischen Verständnis gleichzusetzen ist. Einige Besucher*innen sahen die Europäische Republik auch als einen Prozess ohne Anfang und Ende.
Des Weiteren wurden nationale versus europäische Identitäten und die verschiedenen Perspektiven analysiert. „Die EU verschreibt sich zur Einheit in Vielfalt. Kulturelle Eigenschaften und Identitäten müssen gewahrt bleiben.“, kommentierte Thierse. Für die Diskutierenden stand fest, dass bürgerliches Engagement – wie durch Pulse of Europe – für Europa wichtig sei und die EU als positives Narrativ und als Erfolgsstory vermittelt werden sollte. Entscheidend sei es, europäische Jugendliche zusammenzubringen und den europäischen Gedanken früh in Kindergärten und Schulen weiterzugeben.

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Podiumsdiskussion

Im Anschluss an die Europa Cafés konnten die Besucher*innen sich bei einem Imbiss über die Inhalte der drei Cafés miteinander austauschen. In der darauf folgenden Podiumsdiskussion wurden die Ergebnisse zusammengeführt und im Zusammenspiel aller drei Referenten sowie der Bürgerbewegung Pulse of Europe, vertreten durch ihren Dortmunder Initiator Herbert Prigge, diskutiert.

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Über die Themen der Europa Cafés hinaus wurde auch über die Visionen des Weißbuches der Europäischen Kommission und Lösungsansätze der momentanen europäischen Krise gesprochen.
Die Besucher*innen waren sich einig, dass es sehr schwer sei, eine Sozialunion und gemeinsame Sozialstandards zu etablieren – die Systeme in den Mitgliedstaaten seien dafür noch zu unterschiedlich. Außerdem herrsche keine Einigkeit darüber, wie eine solche Sozialunion aussehen solle.
Einen innovativen Vorschlag brachte Dr. Lehndorff ein: Er postulierte eine Stärkung der Kommunen. So forderte er, dass EU-Gelder direkt an die Kommunen ausgezahlt werden sollten, so dass diese sie eigenständig und unabhängig verwalten können.
Ein weiteres Problem sei, so das Plenum, dass die Mitgliedsstaaten der EU keine gemeinsame Vision hätten, inwiefern es zukünftig weitergehen kann und soll. Zudem wurden die Kompetenzen der einzelnen Institutionen kritisch betrachtet.
Als allgegenwärtige Frage der Veranstaltung wurde zudem diskutiert, ob es ausschließlich die Aufgabe der Politiker*innen oder auch die der Bürger*innen sei, Gestaltungsmöglichkeiten sowie Lösungen für die EU-Politik zu entwickeln. Bis zum Schluss herrschte Uneinigkeit darüber. Aber ist dies verwunderlich? Eine schwierige Thematik wie diese kann keine leichte, schnelle Lösung mit sich bringen.

Ergebnisse der einzelnen Europa Cafés

Café 1: Ich bin Europäer*in – und du? – Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani

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Café 2: Europa neu denken – Weg von der Wirtschaftsunion hin zu einer Sozialunion? – Dr. Steffen Lehndorff

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Café 3: Die europäische Republik – aus und vorbei? – Dr. Stefan Thierse

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Eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse finden Sie auch in diesem PDF-Dokument: (Miss-)Verständnis Europa – Zusammenfassung der Europa Cafés

Text: Karen Majer und Svenja Hennigfeld
Fotos: © Auslandsgesellschaft NRW e.V., Karen Majer, Gerrit Tiefenthal und Lena Borgstedt