Schülerworkshop „Der Weg nach Europa“ mit Merle Goßing (20.06.2016)

Schülerworkshop „Der Weg nach Europa“ mit Merle Goßing (20.06.2016)

Die Veranstaltungsreihe „(Neue) Heimat Europa? Die EU-Flüchtlingspolitik im Fokus“ startete am Weltflüchtlingstag (Montag, den 20. Juni 2016) mit einem kostenlosen Workshop für Jugendliche zum Thema „Der Weg nach Europa“. Die Referentin Merle Goßing zeigte den insgesamt 34 Schüler_innen der Europaschule Dortmund, was es bedeutet, aus seinem Heimatland fliehen und alles zurücklassen zu müssen.

Zu Beginn des Workshops begaben sich die Teilnehmenden auf die Reise in einen fingierten Staat, der die Freiheitsrechte seiner Bürger_innen massiv einschränkt – angelehnt an die Situation in vielen Herkunftsländern von Geflüchteten. Den Schüler_innen wurde nun mittgeteilt, dass sie von der Regierung verhaftet worden seien. Um ihre Freiheit wiederzuerlangen, müssten sie bestimmte Rechte aufgeben oder rassistischen bzw. verletzenden und ausgrenzenden Meinungen zustimmen. So wurde den Schüler_innen die Möglichkeit gegeben, ihr Wahlrecht aufzugeben oder Homosexualität als Verbrechen anzuerkennen. Die Aufgabe ihrer freien Meinung wurde ihnen durch das Setzen ihrer eigenen Unterschrift unter die Forderungen der Regierung besonders plastisch vor Augen geführt. Sollten sie nicht unterschreiben, würde man ihnen auch keine Freiheit gewähren. Dass die Anerkennung der von der Regierung gewünschten Meinung allein jedoch nicht ausreiche, sondern man sich bei der Freilassung zusätzlich auf die Willkür des Staates einstellen müsste, stieß auf Irritation. So bemerkte ein Schüler: „Also kann man eigentlich unterschreiben, was man möchte, man kommt doch nicht raus.“

Wurde die erste Hürde genommen und konnten sich die Teilnehmenden des Workshops aus der Staatsgewalt befreien, musste alles sehr schnell gehen: Gerade einmal 30 Sekunden ließ Merle Goßing den Freiwilligen, um auszuwählen, welche relevanten Gegenstände sie für eine Flucht mitnehmen und was sie alles zurücklassen würden. Den Schüler_innen wurde hier schnell klar, dass alles Persönliche und jedwede Erinnerungsstücke keinen Platz mehr im Rucksack finden könnten. So verliert man alle Gegenstände, die für die eigene Identität von Bedeutung gewesen sind.

„Was meint ihr, wie teuer ist so eine Flucht?“ wollte die Referentin im Anschluss von den Schüler_innen wissen. Die Antworten reichten von knapp 500 bis zu einer halben Million Euro. Gemeinsam wurden verschiedene Möglichkeiten der Flucht nach Europa je nach Budget ausdifferenziert, wobei ein Bereich zwischen etwa 1.000 und 20.000 Euro Standard ist. Ein klares Fazit wurde durch die Leiterin des Workshops gezogen: „Je mehr Geld man hat, umso sicherer ist die Flucht.“ Besonders beeindruckt zeigten sich viele Teilnehmende von den hohen Kosten eines gefälschten Passes, der mit 2.000 bis 5.000 Euro zu Buche schlägt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass verzweifelte Familien zunächst nur ein – meist das körperlich stärkste – Familienmitglied auf die illegale und gefährliche Reise nach Europa schicken, damit dieses von dort aus versuchen kann, die restliche Familie auf legalem und sicheren Weg nachzuholen.

Wie emotional die Entscheidungen hinsichtlich der Vorbereitung einer Flucht werden können, zeigte sich an einem Spiel: Fünf Schüler_innen mussten sich in jeweils eine Person aus dem Bekanntenkreis eines Fliehenden hineinversetzen. Die Großmutter, die Eltern, die Schwester und der beste Freund standen zur Auswahl. Zeit und Ressourcen reichten definitiv nur für die Mitnahme einer weiteren Person nach Europa aus. Durch die Auseinandersetzung mit den Profilen der einzelnen Personen wurde schnell deutlich, wie grausam-rational man in einer solchen Situation handeln muss. Die alte Großmutter würde die Flucht vermutlich kaum überstehen können. „Sie ist ein bisschen zu alt, um die Reise zu schaffen.“, wurde überlegt. Und: „Das Geld würde ich lieber sparen, um ein Kind mitzunehmen.“ Was auf den ersten Blick herzlos erscheint, sind rationale Entscheidungen, die so getroffen werden müssen, um das Gelingen für den Einzelnen garantieren zu können.

Die Schüler_innen erhielten somit einen guten Einblick darin, „wie schwierig das eigentlich für die Menschen ist“. Auf die Frage, was von dem Workshop in Erinnerung bleiben wird, antwortete eine Schülerin, dass man „besser kennengelernt hat, wie die Menschen sich wirklich fühlen“. Ein weiterer Schüler fügte hinzu: „Man hat in dem Workshop verstanden, was das Wort Flüchtling überhaupt bedeutet.“

Die Referentin:
Merle Goßing ist 21 Jahre alt und studiert in Kiel. Schon in ihrer Schulzeit war sie engagiert und hat sich mit den Themen Krieg, Flucht und Diskriminierung, unter anderem im ehemaligen Jugoslawien, auseinandergesetzt. Im Frühjahr 2013 ist sie nach Jordanien in das Flüchtlingscamp Za’atari an der syrischen Grenze gereist. Ihre Eindrücke, die sie dort und auf dem Balkan gewinnen konnte, gibt sie in Workshops an andere junge Menschen weiter.

Unsere Kooperationspartner:

  • Auslandsgesellschaft NRW e.V.
  • Stadt Dortmund
  • Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen

Text: Dominic Melang, Auslandsgesellschaft NRW e.V.
Foto: © Lena Borgstedt, Auslandsgesellschaft NRW e.V.