Was Männer für Geschlechtergerechtigkeit in Europa tun können (30.03.2021)

Was Männer für Geschlechtergerechtigkeit in Europa tun können (30.03.2021)

Feministische Diskussionen werden in ganz Europa meistens von Frauen geführt. Was logisch ist, denn es sind auch mehrheitlich Frauen, die von sexistischen Kommentaren, Belästigung und Benachteiligung berichten – mit dem Ziel, für mehr Bewussten für diese Themen und für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen. Männer sind dabei meistens Zuhörer, denn wenn sie eher Täter als Opfer sind, wie sollen sie die Erfahrungen der Frauen nachvollziehen können? Dennoch: Geschlechtergerechtigkeit lässt sich nicht durch einen zu einseitigen Diskurs erreichen, weswegen wir am 30.03. gemeinsam mit den JEF Ruhrgebiet und den JEF Münster das Aktivisten- und Autorenteam HERR&SPEER zu einem Vortrag zum Thema „Geschlechtergerechtigkeit in Europa – wie kann ein Perspektivwechsel bei Männern gelingen?“ eingeladen haben. Deren Ansatz: Männer sollten ihr eigenes Verhalten zunächst reflektieren und versuchen, einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Moderiert wurde die Diskussion von Carolin Robert von den JEF Münster.

Martin Speer wurde erst in seinen Zwanzigern bewusst, was für ein großer Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen Erfahrungen liegt.

Reise durch ein Europa der Geschlechter(un)gerechtigkeit

Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind ein Autoren- und Aktivistenteam, welches sich europäischen und feministischen Themen widmet. Besondere Aufmerksamkeit erlangten sie im Jahr 2015, als sie die #freeinterrail Kampagne starteten, aber auch durch ihre Forderungen zur Europäischen Integration und zu Youth Empowerment. Als zwei von sechs deutschen UN Women HeforShe Botschaftern beschäftigen sie sich mit der Frage, welche Rolle Männer im Feminismus spielen (können).

Den Einstieg ins Thema machten sie bei unserer Veranstaltung mit einer Geschichte aus ihrem Europa-Engagement: In den Jahren 2019 und 2020 reisten sie in 6 Wochen durch 13 verschiedene Länder, mit der Frage im Gepäck, wie es um Gleichberechtigung in Europa steht. Sie befragten dazu Leute auf der Straße, trafen sich mit Aktivist:innen, und waren zu Gast an Schulen. An einer Schule in Riga fragten sie die Schüler:innen, wer sich als Feminist:in bezeichnen würde, wobei sich nur eine (weibliche) Person meldete. Anschließend berichteten die Schüler:innen , dass sie sich zwar in Privatgesprächen als Feminist:innen bezeichnen würde, jedoch nicht in der Öffentlichkeit, da dieses Wort in der Gesamtgesellschaft eher negativ konnotiert sei.

Dieses Erlebnis zeigt auf, dass Geschlechtergerechtigkeit in Europa bei weitem noch nicht erreicht ist. Besonders in den Punkten Macht, Care-Arbeit, und Sicherheit äußert sich in Deutschland und Europa die Ungleichheit: so sind beispielsweise politische Aktivist:innen tendenziell eher weiblich, wohingegen Frauen in der Politik eher unterrepräsentiert sind: 36% des EU-Parlaments ist durch Frauen besetzt, im Europa-Durchschnitt sind es in den nationalen Parlamenten etwa 30%. Auch in Sachen Care-Arbeit sind es europaweit mit 70% Frauen, die sich um Dinge kümmern wie Kindeserziehung, Putzen, oder Pflege, was dafür spricht, dass die traditionelle Rollenverteilung noch immer vorherrscht. Für Vincent Herr ist das ein besonders wichtiges Thema, da er seit er Vater geworden und gemeinsam mit seiner Frau in Elternzeit gegangen ist, ihm die Bedeutung von Care-Arbeit bewusst(er) wurde: „Solange wir das nicht hinkriegen, werden wir die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und in anderen Bereichen nicht schaffen“

In Puncto Unsicherheit und Gewalt sind ebenfalls die Frauen überrepräsentiert: jede dritte Frau in Deutschland erfährt körperliche Gewalt, zwei Drittel werden in ihrem Leben sexuell belästigt, aber nur 20% aller Frauen nutzen Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen. Sicherheit ist jedoch nicht nur eine Frage der Gewalterlebnisse, sie beginnt für Frauen laut Vincent Herr bereits „mit der Frage: wie bewege ich mich im öffentlichen Raum?“ Als positives Beispiel nannte er die Stadt Wien, wo die Stadtplanung sich nicht mehr nur an der arbeitenden, männlichen Bevölkerung orientiert, sondern in Umfragen verschiedene Bevölkerungsgruppen nach ihren Bedürfnissen gefragt werden mit dem Ziel, die Stadt so weiterzuentwickeln, dass sie unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht wird. Als Folge gilt Wien mittlerweile weltweit führend in Sachen geschlechterinklusiver Stadtplanung, und Frauen fühlen sich dort sicherer als in anderen Städten.

Für Vincent Herr wurden Unterschiede in der Care-Arbeit zwischen Männern und Frauen immer offensichtlicher, seit er Vater geworden ist.

Offene und vertrauensvolle Diskussion über persönliche Alltagserfahrungen

Diesen Bemühungen und Fakten zum Trotz wird die Feminismus-Diskussion nach wie vor überwiegend von Frauen geführt. Viele Männer verständen Geschlechtergerechtigkeit als ein reines Frauenproblem, sprächen der Frage ihre Bedeutung ab, und überhaupt seien Frauen doch schon gleichberechtigt. Laut den beiden Aktivisten sind solche Aussagen vor allem Unterformen der Ausrede, dass Männer durch Frauen durch mehr Gleichberechtigung oder eine Frauenquote am Arbeitsplatz übervorteilt werden. Solche Einstellungen könnten damit erklärt werden, dass Männer diese Art von Sexismus einfach nicht selbst erfahren und darum von sich auf die Erfahrungen der anderen schließen. Dadurch denken und handeln viele unterbewusst sexistisch. Viele verstehen nicht, so Vincent Herr, dass „die Ungleichheit die Ursache vieler Probleme ist, es gibt keine größeren oder kleineren Probleme“, schließlich strahle eine geschlechtergerechte Welt in viele unterschiedliche Bereiche des Lebens rein.

Zum Abschluss des Vortrags stellte sich die Frage: Wie kann man für mehr Dialog in dieser Richtung sorgen? Laut HERR&SPEER ist der erste Schritt gemacht, wenn Männer Frauen nach ihren Erfahrungen mit Sexismus fragen. Auch für die Redner selbst war das Nachfragen der erste Schritt, wie Martin Speer betont: für ihn begann das Thema erst in seinen späten Zwanzigern an Relevanz zu gewinnen: Im familiären Kontext spielten diese Themen es sehr lange keine Rolle, aber als er seine Ziehschwester nach ihren Erfahrungen fragte, merkte er, was für ein großer Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen Erfahrungen liegt.

In der anschließenden offenen Diskussion teilten dann besonders viele weibliche Teilnehmerinnen ihre Erfahrungen mit Sexismus im Alltag. Aber auch die männlichen Teilnehmer schilderten ihre Perspektive, zum Beispiel wie anders Männer sich gegenüber diesen Themen verhalten, wenn sie in einer reinen Männergruppe sind. Allen unterschiedlichen Erfahrungen zum Trotz waren sich die Teilnehmer:innen einig, dass Feminismus natürlich keinesfalls ein Thema ist, was nur Frauen betrifft, und dass auch Männer sich damit beschäftigen sollten. Nur gemeinsam können wir ein gerechteres Europa für alle Menschen schaffen. Ein Perspektivwechsel bei Männern ist der erste Schritt.

Die Teilnehmer:innen teilten auch Buchtipps, welche bei ihnen den Blick auf Geschlechter(un)gerechtigkeit geschärft haben. Unter anderem empfahlen sie:

„Politische Männlichkeit“ von Susanne Kaiser,
„Invisible Women“ von Caroline Criado Perez,
„Power Dressing: First Ladies, Women Politicians and Fashion“ von Robb Young,
Sowie der Podcast „Feminismus mit Vorsatz“.

Wir bedanken uns bei Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer für den informativen Vortrag und bei dem Publikum für die rege Beteiligung an der Diskussion!

 

Text: Stefaniya Vlasova