17_11_10 Brexit

Workshop: Die EU und Großbritannien nach dem Brexit (10.11.2017)

Am 10. November 2017 beleuchteten Dr. Sigrid Fretlöh, Mitglied im Rednerdienst TEAM EUROPE der Europäischen Kommission, und Grahame Lucas, britischer Journalist, gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmer*innen im Rathaus Dortmund die aktuelle Situation rund um den Brexit.

Mit welchen Erwartungen geht die EU in die Brexit-Verhandlungen? Wie sehen mögliche Brexit-Szenarien aus und welche Folgen hätten diese für die Brit*innen einerseits und die EU-Bürger*innen andererseits? Über diese und weitere Fragen wurde im Rahmen zweier Impulsvorträge der Expert*innen und anschließenden Workshops diskutiert. Moderiert wurde die Veranstaltung von Rainer Frickhöfer, Vorsitzender der Europa-Union Kreisverband Dortmund e.V., die Begrüßung erfolgte durch den Oberbürgermeister der Stadt Dortmund Ullrich Sierau.

Die Folgen des Brexit

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Dr. Sigrid Fretlöh

Fest steht: jeder Mitgliedstaat kann aus der EU austreten, hat ihr gegenüber dann jedoch immer noch Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen sind u.a. Thema der aktuellen Verhandlungsrunden. Während EU-Bürger*innen von Brexit-„Verhandlungen“ sprechen, verwenden Brit*innen den Begriff „Gespräche“. „Bereits hier wird offensichtlich, wie ungleich das Verständnis von der Situation ist“, bemerkte Fretlöh. Sicher sei jedoch, dass der Brexit für alle teuer wird, insbesondere aber für Großbritannien: Jeder einzelne UK-Haushalt könne seit dem Brexitreferendum rund 600 Pfund mehr im Jahr haben, so Fretlöh. Von den negativen Folgen des Brexit sind vor allem die Leute am meisten betroffen, die de facto am stärksten für den EU-Austritt waren – dies betrifft besonders kleinere Unternehmen. Durch den Brexit wird zukünftig z.B. ein Mangel an Pflegekräften erwartet, unter dem das britische Gesundheitssystem und Patient*innen leiden werden. Ferner habe sich laut Fretlöh die Ausländerfeindlichkeit innerhalb des Landes nach dem Referendum verstärkt. Aber nicht nur für Großbritannien sieht es düster aus, auch die EU wird mit den Konsequenzen des Brexit zu kämpfen haben. Trotz „Britenrabatt“ ist Großbritannien drittgrößter Nettozahler für den EU-Haushalt, der Austritt wird die wirtschaftliche Macht der EU ein Stück weit verringern. Des Weiteren sind zahlreiche EU-Kooperationen gefährdet, darunter auch das Austauschprogramm Erasmus+.

Wie sehen mögliche Brexit-Szenarien aus?

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Von links: Grahame Lucas und Rainer Frickhöfer

 „Die Briten wissen nicht wirklich, wofür sie gestimmt haben“, bemerkte Grahame Lucas in seinem Vortrag. Vor dem Referendum sei überhaupt kein Konzept für den Brexit entwickelt worden, erst im Nachhinein habe man verschiedene Modelle entworfen. Die möglichen Konzepte orientieren sich dabei an anderen Staaten, so auch das Modell Norwegen: Hierbei bliebe Großbritannien im Binnenmarkt, wodurch der Handel mit der EU gesichert wäre. Da dabei allerdings Kosten entstehen und EU-Standards strikt eingehalten werden müssen, wurde dieses Szenario schnell verworfen. Ebenfalls keine Chance hatte das Modell Schweiz, in dessen Fall Großbritannien lediglich ein Mitglied der europäischen Freihandelskommission bliebe. Auch das Modell der Türkei wurde mehrheitlich abgelehnt: Es gäbe zwar weiterhin die Zollunion mit der EU, aber keine Möglichkeiten für eine eigene Handelspolitik. Das Modell Singapur umfasst keine Tarife, dafür aber freien Handel. Die britischen Standards in der Sozialpolitik könnten aufgehoben werden, stattdessen könnte man die Standards aus Indien übernehmen. Dieser Ansatz sorgte bei den Gewerkschaften und der Labour Party für Empörung: Großbritannien würde ein Billiglohnland werden. Norwegen, Schweiz oder Türkei – diese Szenarien kämen theoretisch für einen weichen Brexit infrage. Singapur entspräche einem harten Brexit.

Die Frist für die Brexit-Verhandlungen ist für Ende März 2019 angesetzt, bis dahin muss eine Lösung gefunden worden sein. Grahame Lucas besprach mit den Teilnehmer*innen einige mögliche Szenarien:

  • Man einigt sich rasch und umfassend freundlich – laut Lucas ein mehr als unwahrscheinliches Szenario.
  • Theresa May bleibt an der Macht, die politische Situation bleibt weiterhin unklar und die Verhandlungen werden weiter aufgeschoben.
  • Theresa May wird gestürzt – bis ein neuer Premierminister ihr Amt übernimmt, werden die Gespräche ebenfalls vertagt.
  • Theresa May tritt zurück, David Davis wird ihr Nachfolger. Es wird versucht, die Gespräche aufrechtzuerhalten und wieder beide Lager der momentan gespaltenen Partei zusammenzuführen. Die Durchsetzung eines Modells wie Norwegen käme infrage.
  • Theresa May verliert im Parlament wichtige Abstimmungen – es kommt zu einem Misstrauensvotum und Jeremy Corbyn wird gewählt.

Wie dachten die Teilnehmer*innen des Workshops?

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In den an die Vorträge angeknüpften Workshops konnten die Teilnehmer*innen mit den beiden Referent*innen in kleinerer Runde diskutieren und Fragen stellen. U.a. wurden Möglichkeiten bilateraler Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und anderen EU-Staaten nach dem Brexit besprochen. Bis jetzt sind offiziell jedoch keine bilateralen Verhandlungen mit einzelnen Ländern gelungen – „die EU hält zusammen“, bemerkte Fretlöh. Finanzielle Themen waren vielen der Teilnehmenden ein Anliegen: Der EU-Haushalt wurde bis 2020 beschlossen – und zwar mit Großbritannien. Demnach ist das Land bis dahin auch dazu verpflichtet, sich an den Kosten zu beteiligen. Diese Verpflichtungen müssen erfüllt werden, dennoch war in der Runde Skepsis zu spüren: „Deutschland wird das bezahlen“, kommentierte ein Teilnehmer. Gemeinhin wurde der Wunsch geäußert, dass die EU keine weiteren Kompromisse eingehen solle. Bereits in der Vergangenheit sei die EU immer wieder auf Sonderwünsche der Brit*innen eingegangen, z.B. durch den „Britenrabatt“. Da die Initiative des Austritts von der britischen Seite ausging, könne von der EU nicht erwartet werden, auf das Land zuzugehen. Ein weiterer Teilnehmer sprach die Veränderungen in der Arbeitswelt an, die der Brexit mit sich bringen wird. Gewerkschaften müssten wissen, dass der Verbleib in der EU weitaus besser sei als der Brexit, denn die Arbeitsbedingungen würden für Arbeitnehmer*innen durch den Europäischen Gerichtshof positiv beeinflusst. Fretlöh kommentierte dazu, dass die Gewerkschaften sich wenig direkt dazu geäußert hätten, eine klare pro-europäische Position sei nicht erkennbar. Eine Teilnehmerin machte sich darüber Gedanken, was „No Deal“ eigentlich genau bedeuten würde. Die Antwort von Lucas fiel sehr klar aus: Falls bis zum Ablauf der Zweijahresfrist keine Einigung stattfindet, müsste im Notfall auf die Grundsätze der Welthandelsorganisation zurückgegriffen werden.

Die Veranstaltung konnte viele Fragen klären, warf jedoch auch einige neue auf. Es ist weiterhin schwer abzusehen, welche genauen Folgen der Brexit für uns haben wird. U.a. bleibt unklar, ob der militärische Faktor ein essentieller Themenpunkt in Verhandlungssachen ist und inwieweit er als Druckmittel eingesetzt werden kann. Des Weiteren stellt sich die Frage, was sich auf der globalen Ebene verändern wird und wie andere wichtige Handelspartner der EU zum Brexit stehen. Wie Europa in einer solchen Situation konstruktiv reagieren soll, war den Teilnehmer*innen schleierhaft. Es bleibt abzuwarten, wie die weiteren Verhandlungsrunden verlaufen und ob eine für beide Seiten zufriedenstellende Einigung gefunden werden kann.

Der Workshop wurde von dem Europe Direct Informationszentrum Dortmund und der Europa-Union Kreisverband Dortmund e.V. gemeinsam mit der Stadt Dortmund, der Europa-Union NRW e.V., der JEF Dortmund und der Deutsch-Britischen Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. veranstaltet.

Text: Isabel Bezzaoui

Fotos: © Auslandsgesellschaft NRW e.V., Europa-Union Kreisverband Dortmund e.V.