10 Jahre nach dem Arabischen Frühling – Europas Verantwortung, Europas Versagen? (07.06.2021)

10 Jahre nach dem Arabischen Frühling – Europas Verantwortung, Europas Versagen? (07.06.2021)

„Ach, so lange ist das schon her?“ So oder so ähnlich reagieren viele, wenn daran erinnert wird, dass der sogenannte Arabische Frühling vor zehn Jahren begonnen hat. Damals schaute Europa hoffnungsvoll auf die Demokratiebewegungen auf der anderen Seite des Mittelmeers, doch ein Jahrzehnt später wird klar: Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Stattdessen führten bis heute andauernde Bürgerkriege und Machtvakuen zu einer Instabilität in der Region, die auf Dauer auch für Europa zu einer großen Herausforderung werden können. Welche Rolle hat Europa in den vergangenen Jahren eingenommen? Und wie groß ist seine Verantwortung – hat die EU bei der Unterstützung des Arabischen Frühlings versagt? Darüber haben wir am 07. Juni 2021 mit unseren Gästen gesprochen:
Jochen Leyhe, Lehrer für die Fächer Politik/Sozialwissenschaften und Französisch, und seit 10 Jahren Moderator für Veranstaltungen zu politischen Themen,
Siebo M. H. Janssen M. A., Politikwissenschaftler und Historiker, mit Lehrauftrag unter anderem an der Ruhr-Uni Bochum, und
Prof. Dr. Hanan Badr, Professorin an der FU Berlin und der Gulf University of Kuwait und ist Mitglied der Arab German Young Academy of Sciences and Humanities.

Arabischer Frühling – was bedeutet das eigentlich?

Prof. Hanan Badr versteht den Begriff auf einer politischen, aber auch auf einer persönlichen Ebene: Auf der generellen politischen Ebene ist es eine massive Bewegung, die jedoch – obwohl dies viele zu glauben scheinen –  nicht ohne Vorgeschichte entstanden ist. Die Grundforderung lautete, in Würde und ohne Verfolgung leben zu können. Und das ist auch heute noch Antrieb, denn der arabische Frühling hat es damals nicht verwirklichen können. Auf persönlicher Ebene nahm Prof. Badr die Proteste so wahr, dass Menschen sich über ihre politischen Unterschiede hinweg einig waren. So gab es in Ägypten den Slogan, welcher ins Deutsche übersetzt „Das Volk möchte das Regime stürzen“ lautete. Jedoch sind die Wörter „Regime“ und „System“ im Arabischen der gleiche Begriff, sodass der Slogan deutlich macht: Es ging nicht nur um einen politischen Wechsel, sondern die Menschen wollten auch eine Veränderung in der Gesellschaft bewirken. Gleichzeitig kritisierte sie den Begriff „Arabischer Frühling“, weil es sich erstens um einen Begriff handle, der eine Darstellung der Dinge aus der westlichen Sicherheitslage und Perspektive bewirkt, und zweitens die Frühlingsmetapher die revolutionelle Komponente ausblendet. Diese kommt jedoch zentral in der eigentlichen Bewegung und in den Begriffen der einzelnen Länder vor: so wird sie in Tunesien Jamsminrevolution, und in Ägypten Tahrir-Revolution genannt.

Für Siebo Janssen ist der arabische Frühling der Versuch einer Umwälzung der arabischen Staaten, der in allen Ländern außer Tunesien gescheitert ist. Die Rolle der EU sieht er sehr kritisch und sagt: „Die EU hat komplett versagt“, was direkt zur Frage führte: Europa ist allem Anschein nach gescheitert – hätte es denn anders gekonnt? Hier sah er das Problem vor allem im Mangel einer einheitlichen Linie in der Außenpolitik der Europäischen Union: Innerhalb der EU habe es viele unterschiedliche Interessen gegeben. So hat Frankreich beispielsweise durch seine Kolonialgeschichte einen starken Bezug zu Nordafrika, während die osteuropäischen Staaten durch ihre Geschichte zu der Region gar keinen Bezug haben, und Deutschland zu einer zurückhaltenden Außenpolitik tendiert. Als zweiten Grund nannte er die Schwierigkeit, von außen in Konflikte einzugreifen: theoretisch sei dies möglich, aber es birgt immer die Gefahr, dass man es dadurch nicht besser macht, sondern die Situation eskaliert und man sie nicht mehr kontrollieren kann. „Viele dachten auch: Eigentlich ist das Sache der Revolutionäre vor Ort“, so Janssen, „man kann sie unterstützen, aber mehr auch nicht.“ Und als dritten und wichtigsten Grund sieht er die Tatsache, dass es in der Region zu viele Akteure mit unterschiedlichen Interessen gibt, sodass es sich durch die vielschichtigen Interessen zu einem Stellvertreterkrieg entwickelt hat: es sei mittlerweile fast unmöglich geworden, den einen Ansatz zur Konfliktlösung zu finden.

Europäische Werte, europäische Verantwortung: Hat die EU versagt?

Ist Europa also gescheitert? Siebo Janssen würde diese Frage bejahen: „Der Arabische Frühling scheiterte auch an der Idee, die die Menschen hatten, der Westen würde seine Werte ernst nehmen“. Dies sei jedoch auch allgemein eher schwierig: Es gebe zwar Werte, die man versuchen würde umzusetzen, aber es sei schwierig, im Einzelfall zu definieren, wie man sie garantieren soll. Auch gelte im Zweifelsfall das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Drittstaaten. Außerdem müsse man auch die potentiellen Folgen für die inneren Angelegenheiten der europäischen Staaten im Hinterkopf behalten: Ein Eingreifen könnte Instabilität bedeuten, Instabilität kann Fluchtbewegungen nach Europa auslösen, und wie im Jahr 2015 zu einem Erstarken der rechten Kräfte führen. Auch das ist ein Grund für die Zurückhaltung in der Unterstützung oppositioneller Bewegungen. Prof. Hanan Badr stimmt zu und ergänzt: „Aus Sicht des globalen Südens verteidigt der Westen seine Werte nicht.“

Doch Opposition ist nicht gleich Opposition: In den arabischen Ländern gibt es nicht nur eine Vielzahl ausländischer Akteure, sondern auch verschiedene Gruppierungen innerhalb der Länder, und nicht alle teilen die gleichen Werte. Diesem Dilemma musste sich auch der EU während des arabischen Frühlings stellen: Wenn eine der Demokratie eher feindlich gegenüberstehende Gruppierung durch demokratische Mittel an die Macht kommt, wie es im Falle der Muslimbrüder in Ägypten geschehen ist, wie geht man damit um: Unterstützt man sie, weil sie demokratisch gewählt sind, oder entzieht man die Unterstützung, weil die Gruppierung die Werte nicht teilt, die man verteidigen will? Hier waren sich die Experten uneinig, und zeigten durch die Diskussion um diese Frage gleichzeitig auch den inneren Konflikt, der die EU damals wie heute in ihrer Außenpolitik entzweite.

Blick in die Zukunft: Ist ein Ende des Konflikts in Sicht?

Zum Schluss blieb natürlich die Frage: Gibt es nach zehn Jahren Hoffnung auf einen Frieden in der Region? Das sahen die Experten eher skeptisch: Siebo Janssen hält den Konflikt aufgrund der vielen Beteiligten und vielschichtigen Interessen für unlösbar. In der Region gebe es auch keine Unbeteiligten ohne Interessen, welche man für einen Aussöhnungs- oder Friedensprozess benötigen würde. Gedankenspiele wie das Aufsetzen eines föderalen Systems oder ein externes Eingreifen durch ein Mandat der UN sind aus diesem Grund momentan wenig realistisch. Prof.  Hanan Badr fügte allerdings hinzu, dass die jetzige Lage nicht nachhaltig sei: Durch eine sehr junge Demografie (knapp 60% der Bevölkerung Ägyptens sind jünger als 25) und eine ungerechte Ressourcenverteilung ist die Lage in der Region instabil, und auf Dauer könne man sie nicht durch Repressalien halten. Viele Aktivisten von früher halten sich mittlerweile, aus unterschiedlichen Gründen, aus der Politik raus. Revolution sei ein Prozess, aber ein langwieriger, und deshalb könnte es „erneut zu einer disruptiven Lage kommen“. Allerdings sieht sie aus diesem Grund auch Parallelen zu der deutschen Revolution von 1848 – und auch wenn diese anfangs gescheitert ist, so wurde Deutschland Jahre später doch demokratisch. Das alles gibt Grund zur Hoffnung, dass der arabische Frühling zwar zum jetzigen Zeitpunkt gescheitert ist, aber er in der Gesellschaft den Stein zum Rollen gebracht hat, sodass in Zukunft zumindest eine Besserung der Lage in Sicht sein könnte.

Wir bedanken uns bei unseren Experten für die anschauliche Darstellung eines komplexen geopolitischen Themas, und für die angeregte Diskussion!

 

Text: Stefaniya Vlasova