26 Jahre Visegráder Zusammenarbeit (09.03.2017)
Am 09. März 2017 begrüßten das Europe Direct Dortmund gemeinsam mit der Deutsch-Ungarischen, der Deutsch-Tschechischen, der Deutsch-Slowakischen Gesellschaft sowie des Deutsch-Polnischen Länderkreises den ungarischen Politologen und Parteien- bzw. Wahlforscher Zoltán Kiszelly. Ziel war, mit ihm über die Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten und deren Blickwinkel auf die Arbeit in und mit der EU zu sprechen.
Historischer Abriss
Am 15. Februar 1991 schlossen sich die Staaten Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn zu einer Kooperation zusammen und vereinten so ca. 60 Millionen Menschen. Ziel war es, neben der Westintegration auch den Einfluss der ehemaligen Sowjetunion zu begrenzen. Mit der Gründung der CEFTA, einer Freihandelszone innerhalb der Visegrád-Staaten, sollte die gewünschte Europäische Integration vorbereitet werden. Der Plan trug Früchte: Bereits im Jahr 1999 gehörten drei der vier Visegrád-Staaten zu den chancenreichsten EU-Beitrittskandidatinnen. Mit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 sei das vorrangige Ziel der V4 schließlich erreicht worden und abgesehen von der bereits bestehenden Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur und Wirtschaft gab es keine Intentionen, diese weiter zu verstärken. Daher sei es infolgedessen still um die Kooperation geworden, so der Referent. Erst mit dem vermehrten Zuzug von Geflüchteten nach Europa lebte sie wieder auf.
Welche Richtung könnte die V4 in Zukunft einschlagen?
Hier stellte der Referent verschiedene Denkversuche an:
So greift Kiszelly die Idee einer sog. Intermarium-Konföderation auf: Der infolge des ersten Weltkriegs von dem polnischen Marschal Józef Piłsudski unterbreitete Vorschlag sah vor, Staaten vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee unter Polen als regionaler Führungsmacht zusammenzuschließen. Eine Vereinigung nach einem solchen Vorbild würde heute ca. 180 Millionen Menschen umfassen und eine geografische Pufferzone zwischen Ost und West darstellen. Intermarium würde als Allianz gegen Deutschland und Russland verstanden, so der Referent. Eine solche Zusammenarbeit würde den Mitgliedsländern große politische Macht verleihen, allerdings seien sie wirtschaftlich nicht stark genug, um mit Russland und den westeuropäischen Ländern zu konkurrieren. Die Idee scheitere zudem bereits an der Tatsache, dass Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Bulgarien nicht anti-russisch eingestellt seien.
Auch denkbar, so der Referent, sei eine Erweiterung der Visegrád-Staaten um die Ukraine. Dies sei Russland allerdings ein Dorn im Auge, so dass es Ressentiments zwischen Polen und der Ukraine schüre: Russland versuche, die Gegensätze beider Staaten zu schärfen, indem es an die Kriegsverbrechen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnere.
Die Ukraine sei für Russland aufgrund ihrer geografischen Lage polit-strategisch gesehen sehr wichtig, führte Kiszelly aus. Vor diesem Hintergrund lasse sich auch Russlands regionaler Krieg gegen die Ukraine und Georgien verstehen. Denn ein Staat ohne gesicherte Außengrenzen könne schließlich kein Mitglied der Europäischen Union werden.
Hier nahm der Referent einen kurzen Abstecher vor und beleuchtete das Verhältnis der V4 zu Russland bzw. zur Russlandpolitik der EU: So seien Tschechien, die Slowakei und Ungarn skeptisch gegenüber den Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland. Sie würden eine offene Debatte vorziehen, tragen die Mehrheitsentscheidungen der EU jedoch mit. Polen sehe das ganz anders. So wolle es die Verteidigungsausgaben der NATO im offensiven Bereich erhöhen, während die anderen drei der V4 die NATO zwar ebenfalls als Garanten für Sicherheit sehen, aber ihre Ausgaben nur im defensiven Bereich erhöhen wollen. Polen und Tschechien arbeiten des Weiteren aktiv gegen „russische Propaganda“, während Ungarn und die Slowakei eher pro-russisch eingestellt seien.
Abschließend hielt Kiszelly fest, dass er selbst einen Beitritt der Ukraine zu den Visegrád-Staaten nicht für sinnvoll halte. Je mehr Mitglieder ein Bündnis habe, desto schwieriger sei die Entscheidungsfindung – wie auch das Vorbild EU zeigt.
Standpunkt der V4 zu Migration und Flucht
Im Anschluss beleuchtete der Referent die Haltung der Visegráder Staaten zu den Themen Flucht und Migration, denn diese haben die V4 nach ihrem EU-Beitritt wieder aus dem „Dornröschenschlaf“ geweckt.
Kiszelly betonte, dass die Mehrheit der Bevölkerung in den V4 keine Ansiedlung größerer Massen von Nicht-Europäer*innen in ihren Ländern wolle.
Die Visegrád-Staaten wollen dem Bevölkerungsschwund, der durch demografische Veränderungen eintrete, durch eine (finanzielle) Förderung von Familien entgegensteuern. Der Arbeitskräftemangel könne außerdem durch Gehaltserhöhungen und die Anwerbung von Osteuropäer*innen z.B. aus der Ukraine behoben werden, so Kiszelly. Die Aufnahme von Geflüchteten vor diesem Hintergrund sei in den V4 daher nicht gewünscht.
„Keiner hat ein Anrecht auf ein besseres Leben“, lautete die Begründung für diese Position, mit der Kiszelly die Ansichten der V4 zu Migration und Flucht nach eigener Aussage „knallhart“ zusammenfasste. Wer eine Grenze überquere, um nicht verfolgt zu werden oder Angst um sein Leben haben zu müssen, sei ein Geflüchteter – wer sechs Grenzen überquere, sei nicht auf der Flucht, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben, so Kiszelly. Man solle die Menschen natürlich auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken retten, sie aber außerhalb der EU in Sicherheit bringen. Über Asylanträge solle außerhalb der EU bzw. in sog. Transitzonen entschieden werden, nicht nach Ankunft der Geflüchteten in der EU.
Vor diesem Hintergrund sprach sich Kiszelly für ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten aus: Einwanderungswillige Länder können gerne eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Flucht und Migration eingehen und freiwillige Aufnahmequoten erfüllen, so der Referent. Eine einheitliche Regelung der Entscheidung über Asylanträge auf EU-Ebene lehne er aber ab – dies solle den Nationalstaaten überlassen sein. Die V4 wollen nur geltendes EU-Recht umsetzen, d.h. Außengrenzen schützen, damit die Bewegungsfreiheit erhalten bleibe. Diese „flexible Solidarität“ sei ihrer Ansicht nach eine gleichwertige Lösung zur bisher von Westeuropa propagierten, auf alle EU-Staaten gerecht verteilten Aufnahme von Geflüchteten. Man wolle eine gemeinsame Solidarität im Schutz von Außengrenzen finden.
Europas Zukunft
Die Visegrád-Staaten seien auch weiterhin an einem gemeinsamen Europa interessiert, nicht zuletzt weil sie den wirtschaftlichen Anschluss an den Westen mit Hilfe und als Teil der EU erreichen wollen, so Kiszelly. Der Binnenmarkt solle erhalten bleiben und normative Transferleistungen auch nach 2020 fließen, fasste der Referent die Haltung der V4 zur EU zusammen. Außerdem wünsche man sich eine europäische Armee zur gemeinsamen Verteidigung u.a. der Außengrenzen.
Die EU dürfe sich jedoch nicht in innere Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten mischen, wie dies bei Ungarn und Polen geschehen sei. Diese Demokratieexporte seien von Seiten der V4 unerwünscht.
Insgesamt sei jeder Staat auf der Suche nach einem Angebot, das seine Bedürfnisse befriedige, der jedoch kaum bzw. keine Kosten verursache, so Kiszelly. Daher warten die V4 auf ein neues Win-Win-Angebot aus Brüssel.
Die abschließende Diskussion mit den zahlreichen Besucher*innen war der Thematik entsprechend sehr kontrovers und hitzig.
Die Auslandsgesellschaft NRW e.V. steht jedoch dafür, Brücken zu bauen und Menschen mit teils kontroversen Meinungen zusammenzubringen. Ein offener Diskurs ist nur unter respektvollem Umgang mit verschiedenen Meinungen möglich.
Text: Kim Isabelle Wollnik, Auslandsgesellschaft NRW e.V.
Foto: © Auslandsgesellschaft NRW e.V.