„Abgründe des Antieuropäismus“ (19.09.2019)
Wenn wir in den Medien von Antieuropäismus lesen oder im Alltag davon reden, ist damit meist das gemeint, was in der sozialwissenschaftlichen Forschung unter den Begriff Euroskepsis fällt. Dabei gibt es „weichere“ euroskeptische Positionen, die sich etwa gegen eine bestimmte politische Ausrichtung der EU stellen, wie sie etwa in der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke vertreten sind, oder „harte“ euroskeptische Positionen, wie die Brexit Partei. Doch Antieuropäismus als diesen Positionen unterliegende Ideologie geht viel weiter. Tom Uhlig von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt berichtete in seinem Vortrag „Abgründe des Antieuropäismus“ am 19.09.2019 im Rathaus der Stadt Dortmund von den tiefergehenden ideologischen Versatzstücken, aus denen sich verschiedene Formen des Antieuropäismus ableiten. Unter Bezug auf den renommierten Politologen Claus Leggewie erarbeitete der Referent die Gemeinsamkeiten dreier Ideologien, die emblematisch für die kontemporären Artikulationen des Antieuropäismus stehen: Die in Europa bei Akteuren des Rechtsaußenspektrums verbreitete Ideologie der identitären Volksgemeinschaft, die autoritäre Phantasie eines von der Westbindung gelösten Neo-Eurasiens, wie sie etwa vom russischen Neo-Faschisten Alexander Dugin verkörpert wird, und die islamistisch definierte Umma.
Auch wenn der Referent im Laufe seines Vortrags auf alle drei Ideologien eingehen sollte, war das Publikum vor allem an der identitären Ideologie der Volksgemeinschaft interessiert, wie sie etwa auch von großen Teilen der AfD verkörpert wird. Der Grund dafür war recht einfach: Wie die Diskussion am Ende des Vortrags zeigte, waren die Gemüter der Teilnehmer*innen wegen des sogenannten „Bürgerdialogs“ der AfD in Dortmund tags zuvor noch immer schwer erhitzt. Mit der AfD begann auch Tom Uhligs Vortrag. Diese habe sich zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes nicht nur zur „Grundgesetzpartei unseres Landes“ aufgeschwungen, sondern es auch gegen die EU ausgespielt. Dies klinge an, wenn eine Alice Weigel der EU etwa eine „eklatante Störung der Gewaltenteilung“ vorwerfe. Beim Wahlkampf im Juni 2018 klang diese kryptisch formulierte Angst vom Aufgehen Deutschlands in einer supranationalen Organisation noch ganz anders, denn da sprach der damalige Spitzenkandidat Alexander Gauland noch von einer der europäischen Integration unterliegenden Intention der Auflösung. Das deutsche Volk solle sich, so Gauland „in einem großen Ganzen auflösen“. Er habe aber kein Interesse daran, „Menschheit zu werden“, sondern wolle viel lieber Deutscher bleiben. Was wohl der große „deutsche“ Philosoph Immanuel Kant, der 2017 noch als Namenspate für eine AfD-nahe Stiftung stehen sollte, dazu gesagt hätte? Hundekrawatte vs. Weltgesellschaft.
Doch wie lässt sich diese vehemente Ablehnung der EU als supranationale Organisationsform zugunsten nationaler Abschottung und Verengung erklären? Tom Uhlig zieht dafür einen recht ungewöhnlichen Bestseller zur Hand: Die dieses Jahr erschienene aus dem Jahr 1967 stammende Adorno-Vorlesung „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“. Der Referent macht daran zwei zentrale Argumentationslinien fest: Eine zur Zeit der Blockkonfrontation noch rationale Angst davor, durch das Aufgehen in der UdSSR bzw. der USA-nahen NATO in der „materiellen Existenz schwer beeinträchtigt zu werden“, hält Tom Uhlig für nicht mehr gültig, denn in Zeiten er Globalisierung sei Wohlstand ohne größere internationale wirtschaftliche Zusammenschlüsse kaum mehr vorstellbar. Deswegen konzentriere er sich auf die irrationalen Momente der Ablehnung, die dem Antieuropäismus unterliegen. Zentral hierfür ist die von Adorno immer wieder bemühte Figur des „ungeglaubten Glaubens“. Diese machte er bereits 1967 am Nationalstaat fest: „Es glaube eigentlich niemand mehr so ganz daran“, dennoch entfalten nationalistische Ideologien gerade im Moment der eigentlichen Überholtheit „ihr dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches“. Obwohl also die Nation oder die Idee eines ethnisch undurchlässigen Volkes in der Realität vollkommen überflüssig sei, schiene „allerorts von ihr die Rede“, so der Vortragende. Dieser Widerspruch sei genau das, was der Antieuropäismus auszufüllen vermag. Sein Kern sei laut Uhlig deshalb der Versuch, eine konkrete historische Entwicklung rückgängig zu machen. Nämlich die Abtretung nationalstaatlicher Kompetenzen an eine supranationale Struktur. Gepaart würde dieser Versuch mit ideologischen Versatzstücken, dem Antiamerikanismus, antisemitischen Verschwörungstheorien und einer Ablehnung des Kosmopolitismus. Oder wie es der US-Präsident Donald Trump jüngst in einer Rede bei der UN ausdrückte: „Die Zukunft der Welt gehört den Patrioten und nicht den Globalisten!“ Wie Tom Uhlig ergänzt, sei diese Bild- und Sprachenwelt des sogenannten Globalismus und des Anti-Kosmopolitismus nicht nur auf rechte Bewegungen begrenzt, sondern tauge spätestens seit der Finanzkrise 2008 auch als Feindbild selbsterklärter linker Parteien und Bewegungen.
Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen Europas aushalten
Hier beobachtet der Referent ein zentrales Problem, nämlich dass Europa natürlich als Idee immer sehr viel mehr war als ihre Verwirklichung. Dies zeigen die Toten im Mittelmeer, menschenunwürdige Transitzentren und die Tatsache, dass der relative Wohlstand hier anderswo Katastrophen auslöse. Diese Widersprüchlichkeit Europas gebe es aber zu akzeptieren, ein blinder Glaube an Europa und die EU als Utopie seien dabei ähnlich irreführend und verblendet, wie das, was die Antieuropäer*innen in Europa hineinprojizierten. Auf Basis von Claus Leggewies biografischen Annäherungen an die Schriften und Verbrechen Anders Breiviks, Alexander Dugins und Abu Musab al-Suris nähert sich Uhlig den fünf Elementen, die sowohl die Projektion einer identitären Volksgemeinschaft, die Idee eines Russland-nahen Neo-Eurasiens und die muslimisch definierte Umma gemeinsam haben; kurzum: den Elementen des Antieuropäismus:
Zentral sei für alle in erster Linie das Primat der Wiedereinführung der Leitkategorie des Raumes in der Politik. Dem transnationalen Kosmopolitismus, der durch NGOs, den europäischen Binnenmarkt oder der EU verkörpert werde, setzen sie einen globalstrategischen Nationalismus entgegen. Ganz egal, ob sie dabei von Ethnopluralismus, „Blut und Boden“ oder der Ausdehnung des islamischen Herrschaftsbereichs reden, gemeint ist am Ende immer eine Ideologie der einheitlichen Volksgemeinschaft.
Der zweite Punkt sei in der Resakralisierung der Politik zu finden. Anstatt die technisch rationalisierte Vernunft kontemporärer Politik, die Weber einst als „Entzauberung der Welt“ beschrieb, zu akzeptieren, werden Religion und Politik vermengt und verbunden. Dies sei alleine schon aus den sakral anmutenden Formulierungen vom „großen Austausch“ und den damit einhergehenden Heilsversprechen abzuleiten.
An dritter Stelle, wahrscheinlich der alltagspolitisch relevanteste Aspekt: Alle drei Spielarten des Antieuropäismus richten sich gegen die Liberalisierung von Familienmodellen: Sie wollen eine Wiederherstellung „traditionell“ patriarchaler Familienordnung, in der sich die Frau bedingungslos dem Mann unterordne und Sexualität primär zur Reproduktion der Volksgemeinschaft und schon gar nicht der Lust diene. Deutlich werde dies zum Beispiel in russischer Propaganda, die häufig unter dem Slogan „Gayropa“ vor der wortwörtlichen „Verschwulung“ des Abendlandes warne.
Der imaginierte Kampf gegen die liberale Ordnung Europas kennzeichne sich in der vierten Gemeinsamkeit der drei Ideologien durch die Legitimität von Gewalt. Hierbei werde ein Zustand der permanenten Bedrohung konstruiert, der wie der Sozialpsychologe Rolf Pohl es nannte eine „paranoide Kampf-Abwehr-Haltung“ legitimiere, wie sie sonst vor allem bei adoleszenten männlichen Jugendlichen auftrete. Die permanente Kränkung und Zurückweisung werde immer mitgedacht, nur um sich dann mit geballter Wut entladen zu können. Als Beispiel führt der Referent hier das kürzlich erschienene ZDF-Interview mit Björn Höcke an, der schon davon ausging „nicht fair“ behandelt zu werden, nur um das Interview nach wenigen Minuten mit massivsten Drohungen gegen die Journalist*innen zu beenden.
All diese gemeinsamen Charakteristiken würden auf so etwas wie den roten Faden des Antieuropäismus hinauslaufen: Die Figur eines autokratischen Führers. Denn wie Tom Uhlig erklärt, hassen die Antieuropäer*innen nichts mehr, als „die Widersprüche, den Streit und die Ambivalenzen parlamentarischer Demokratien“. Diese Führerfigur antizipiere den vorpolitischen phantasierten Volkswillen und handle anders als gewählte Vertreter*innen wirklich im Namen des Volkes.
Die Wiederherstellung der Eigentlichkeit
All diese Gemeinsamkeiten der drei genannten antieuropäischen Ideologien liefen dabei auf etwas Profanes hinaus, nämlich die Herstellung von Eigentlichkeit. Diesen Begriff prägte der Sozialphilosoph Theodor Wiesengrund Adorno in seinem Buch „Jargon der Eigentlichkeit“. Die Wörter klingen hier „unabhängig vom Kontext, wie vom begrifflichen Inhalt, (…) wie wenn sie ein höheres sagten”. Es sind Begriffe wie sie auch Björn Höcke gerne benutzt, wenn er sich in seinen Reden und Schriften zum Heidegger aufschwingt. Begriffe wie Schicksal, Schicksalsgemeinschaft, Sein, Wesen, Bestimmung etc., die über die vermeintliche Leere der entzauberten Welt hinwegtäuschen sollen. Diese Wiederherstellung der Eigentlichkeit stehe dem Projekt diametral entgegen. Deswegen werden an Europa nicht die gegenwärtigen und die historischen Unvollkommenheiten gehasst (das Sterben im Mittelmeer, koloniale Kontinuitäten etc.), sondern vielmehr das, was sich wie die realisierten Errungenschaften Europas lese, wie etwa das Gewaltmonopol des Staates, der Laizismus oder die Liberalisierung von Familienmodellen. Damit stehe der Antieuropäismus für ein antiwestliches Denken, das sich nicht daran abarbeite den sogenannten Westen am eigenen Selbstanspruch seiner universalistischen Prinzipien, wie etwas Aufklärung, Gleichheit, Freiheit und Vernunft zu messen, sondern ebenjene Prinzipien selbst verabscheue.
Antieuropäismus sei eine Ideologie, die daher extrem vereinfacht die Widersprüche und Ambivalenzen der modernen Welt nicht aushalten könne und deshalb versuche, durch stumpfsinnige und vermeintlich natürliche Ordnungsgrößen wie Gott, Nation und Schicksal, durch einen Jargon der Eigentlichkeit Sinn zu stiften. Dies wiederum bilde eine hohe Anschlussfähigkeit für antisemitische Verschwörungs- und Vernichtungsphantasien. Anstelle abstrakter und komplexer Beziehungsgefüge würden „vermeintlich mächtige Gruppen im Geheimen“ treten, die über den vermeintlichen und eigentlichen Volkswillen entscheiden. Tom Uhlig plädiert deshalb in der anschließenden Diskussion mit den Veranstaltungsteilnehmer*innen dafür, die Ambivalenzen der Moderne zuzulassen, „zuzugeben, dass Gesellschaft mich überfordert“. Gleichzeitig helfe es aber auch nichts, Europa als Lösung für alle Probleme zu stilisieren: „Wir können keine Utopie am Reisbrett entwerfen, dennoch gibt es genug gute Gründe, positive Visionen von Europa zu entwerfen.“ Zumindest wenn man bereit sei, Europa weiterhin als Konfliktort und nicht als quasi sakrales Heilsversprechen auf die Verwirklichung des Weltgeists zu verstehen.
Die Veranstaltung war Teil der Europa-Projektwochen 2019 und wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. mit Unterstützung des DGB Dortmund-Hellweg, der Stadt Dortmund und dem AK gegen Rechtsextremismus organisiert. Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen für die freundliche Förderung des Projekts.
Text von: Lorenz Blumenthaler, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Lorenz Blumenthaler, Auslandsgesellschaft.de e.V.