Brexit heißt Brexit (02.03.2017)
Am 02. März 2017 begrüßten das Europe Direct Dortmund und die Deutsch-Britische Gesellschaft den englischen Medienanalysten Dr. Christopher John Terry. Er untersuchte die Hintergründe und Folgen des Referendums in Großbritannien im Juni 2016 und führte im Anschluss eine lebhafte Diskussion mit den Anwesenden, teils selbst englischer Herkunft.
Der Beginn der Brexit-Stimmung
Begonnen habe alles mit der Spaltung der „Conservative Party“ unter Ex-Premierminister David Cameron, so Dr. Terry. Durch Unstimmigkeiten in den eigenen Reihen und die zunehmend stärker werdende EU-skeptische UKIP unter Druck gesetzt, versprach Cameron im Jahr 2013, ein Referendum zum Verbleib in der EU durchzuführen, sollten er und seine Partei die Wahlen gewinnen.
Ein weiterer wichtiger Faktor, der zum Referendumsvotum geführt habe, sei eine sog. passive Exit-Stimmung gewesen. Sie habe sich laut Dr. Terry aufgrund mehrerer Faktoren gebildet: Die britische Bevölkerung habe eine vermeintlich „unkontrollierte Einwanderung“ nach Europa wahrgenommen sowie eine „Grenzverletzung Großbritanniens“ empfunden. Dies sei nicht gerade begünstigt worden durch die im Herbst 2015 getroffene Entscheidung Deutschlands, eine große Zahl an Geflüchteten aufzunehmen. Zudem hätte die britische Bevölkerung sich gegenüber zugezogenen „Ausländer_innen“ (hier v.a. polnischen Bürger_innen) auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt gefühlt. Damit einher gehe der Übergang von der Verwendung des Begriffs „EU-Bürger_in“ hin zu „EU-Ausländer_in“, konstatierte Dr. Terry.
Die Exit-Stimmung sei massiv von Akteur_innen wie z.B. „The Express“, „The Telegraph“, Aaron Banks (Mitbegründer der „LEAVE.EU“-Kampagne) oder Rupert Murdoch unterstützt und gesteuert worden.
Die Ursachen, die letztendlich zum Ergebnis des Referendums geführt haben, seien allerdings nicht nur auf Seiten Großbritanniens zu finden. Dr. Terry betonte, dass „der Brexit verhinderbar gewesen wäre“: Ein anderer Umgang der EU mit der Exit-Stimmung hätte das Votum der Brit_innen verhindern können.
Verlierer_innen und Gewinner_innen des Referendums
Das Ergebnis des Referendums war mit 51,9% zu 48,1% ein knappes Ergebnis für einen Austritt aus der EU. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung bei 72,2%. Schlüsselt man das Ergebnis geografisch, demografisch und sozialökonomisch auf, so findet sich ein sehr gespaltenes Bild:
Geografisch haben Schottland, Nordirland und Gibraltar mit deutlicher Mehrheit für einen Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Diese Unstimmigkeit führte zuletzt zu Ideen eines erneuten Referendums über die Unabhängigkeit Schottlands.
Demografisch gibt es ebenfalls deutliche Unterschiede. So haben sich 73% der 18- bis 24-Jährigen für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, bei den 65+-Jährigen waren es nur 40%.
Sozialökonomisch lässt sich sagen, dass, je höher der Bildungsstand, desto geringer der prozentuale Anteil der Brexit-Befürworter_innen.
Verlierer_innen seien hier vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, junge Menschen und „besser gebildete“, aber auch arme, alte und kranke Menschen sowie Menschen mit Behinderungen. Sie haben, so Terry, „einfach Pech gehabt“, da Mays Konzentration auf eine radikale Marktwirtschaft und das Voranbringen des Wohlfahrtsstaates nicht miteinander zu vereinbaren sind.
Gewinner_innen seien im Gegenzug die „Superreichen“, wie z.B. Hedgefonds-Manager_innen oder die oben erwähnten Unterstützer_innen der Exit-Stimmung.
Welche Möglichkeiten zeichnen sich infolge des Referendums ab?
Szenario 1: „Kein Brexit“
Eine Volksabstimmung ist noch lange nicht bindend. So wurde von Vertreter_innen der Liberaldemokrat_innen ein zweites Referendum gefordert. Zwar seien die Chancen für dieses Szenario gering, aber nicht unmöglich, urteilte Dr. Terry. Viele hoffen darauf, dass die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien so ungünstig verlaufen, dass der Wunsch der Bevölkerung nach einem zweiten Referendum wachse und Druck auf führende Politiker_innen ausübe. Dr. Terry sprach diesbezüglich auch Verschwörungstheorien an, nach denen das Establishment den Willen des Volkes durch Verzögerung der Verhandlungen umgehe.
Szenario 2: „Soft Brexit“
In diesem Szenario verbleibt Großbritannien sowohl im Binnenmarkt, als auch in der Zollunion. Wirtschaftlich habe es kaum langfristige Auswirkungen, da der für Großbritannien wichtige Verbleib im Binnenmarkt Bestand habe. Dieses Szenario galt lange als wahrscheinlich, wurde jedoch mit der Ernennung von Theresa May zur Premierministerin zunehmend unwahrscheinlicher, denn es sei mit Mays Hauptzielen, wie beispielsweise der Begrenzung von Einwanderung oder der Beseitigung der Zuständigkeiten des EuGH, unvereinbar.
Szenario 3: „Modell Türkei“
Großbritannien verlässt zwar den Binnenmarkt, bleibt aber weiterhin Mitglied der Zollunion. Für das Vereinigte Königreich bedeute dies, keine Zölle im Warenverkehr mit der Europäischen Union sowie einheitliche Außenzölle. Allerdings befinde sich der für das Land wesentliche Dienstleistungssektor hier außen vor, da freier Dienstleistungsverkehr nur Bestandteil der Grundfreiheiten des Binnenmarkts sei. Außerdem verhindere die Mitgliedschaft in der Zollunion eigenständige, bilaterale Handelsverträge Großbritanniens mit anderen Akteuren. Dieses Szenario erlaube jedoch eine Begrenzung der Einwanderung, während die vermutlichen wirtschaftlichen Folgen relativ gering ausfallen würden.
Szenario 4: „Hard Brexit“
Der Referent unterteilt dieses Szenario in zwei Varianten: den gemäßigten „hard Brexit“ und den radikalen „hard Brexit“. Unter erstere Variante falle ein Austritt Großbritanniens aus der EU, welcher die Beziehungen beider Akteure unmittelbar danach jedoch in einem umfassenden Handelsvertrag regele. So könne es beispielsweise eine Vereinbarung geben, in welcher die EU Großbritannien weiterhin freien Dienstleistungsverkehr gewähre, Großbritannien aber im Gegenzug Zahlungen an den EU-Haushalt leiste.
Die radikale Variante folge eher Premierministerin Mays Aussage „No deal is better than a ‚bad deal‘“. Sie sehe einen sofortigen Austritt Großbritanniens aus der EU ohne einen neuen Vertrag vor. Dies würde, sollten Großbritannien und die EU sich während ihrer Verhandlungen nicht einigen können, nach dem Ablauf einer zweijährigen Verhandlungsfrist geschehen.
Welche Herausforderungen kommen auf Großbritannien zu?
Infolge der erwähnten Verfassungskrise durch die Referendumsergebnisse in Schottland und Nordirland präsentiere sich ein „unvereinigtes Königreich“, so Dr. Terry. Darüber hinaus würden jedoch auch Infrastruktur und Bildung unter dem Ergebnis leiden, da Gelder in andere Bereiche werden fließen müssen. Um die finanzielle Belastung durch den Austritt aus der EU auszugleichen, werde es eine Steuererhöhung geben, so der Referent, die wiederum die Lebenskosten für die britische Bevölkerung steigen lasse. Dies werde ein Problem für die weniger oder durchschnittliche Verdienenden, während die Reichen hier Profit erwirtschaften können.
Erfolgsaussichten des Brexit?
Der Referent sah hier kaum Raum für Spekulationen. Alles hänge von den Verhandlungen mit der Europäischen Union ab. Langfristig vermutete er jedoch einen, zumindest wirtschaftlich eher negativen Trend. Wie es mit Großbritannien nach einem Austritt weitergehe, das heißt ob und wenn ja, welches Exit-Modell in Frage komme, lasse sich nur erahnen. Allerdings, so war sich Dr. Terry sicher, seien die bisherigen Dienstreisen von führenden britischen Politiker_innen ein Indiz dafür, dass bereits nach Partner_innen für bilaterale Handelsabkommen gesucht werde.
Ein Ausblick am Beispiel der Dortmunder Partnerstadt Leeds
Das Ergebnis des Referendums verlangt einen Austritt Großbritanniens aus der EU, aber die einzelnen britischen Städte betreiben anscheinend ihre ganz eigene Politik. So hört man aus der Dortmunder Partnerstadt Leeds, dass es ein gesteigertes Interesse an Europa gebe. Die britische Bevölkerung versuche, sich niederschwellig für Europa und die EU einzusetzen. Leeds befindet sich momentan mitten in der Bewerbungsphase als europäische Kulturhauptstadt für das Jahr 2023. Rolf Dickel, Leiter der Deutsch-Britischen Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e.V., beendete den Abend dementsprechend mit den Worten: „Lasst uns Brücken bauen, wo Brücken einreißen.“
Text: Kim Isabelle Wollnik, Auslandsgesellschaft NRW e.V.
Foto: © Auslandsgesellschaft NRW e.V.