Die EU und der Maghreb – mehr als Einfallstor für Migration (18.09.2024)

Die EU und der Maghreb – mehr als Einfallstor für Migration (18.09.2024)

Ist Migration eines der drängendsten Probleme unserer Zeit? Sind die neu eingeführten Grenzkontrollen Deutschlands die Lösung? Und ist die „Festung Europa“ eine realistische Option? Auch diese generellen politischen Fragen spielten bei unserer Online-Diskussionsveranstaltung zum Maghreb eine Rolle. Ob die Maghrebstaaten wirklich sichere Drittstaaten sind und ob Rückführungen in diese Länder sinnvoll sind, wurde ebenfalls von Moderator Jochen Leyhe mit Historiker und Publizist Rasim Marz sowie Politikwissenschaftler Siebo Janssen diskutiert.

Der Maghreb – das Tor zum Mittelmeer

Zum Einstieg ein geografischer Überblick: Der Maghreb und die angrenzende Sahelzone lassen sich klar abgrenzen. Der Maghreb umfasst Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen – überwiegend frankophone Länder, die teilweise noch immer durch ihre Kolonialgeschichte mit Frankreich verbunden sind. Diese Staaten liegen am Mittelmeer und sind nur durch dieses von Europa getrennt. Die Sahelzone bezeichnet hingegen den Länderstreifen südlich der Maghrebstaaten, unterhalb der Sahara, zu die Länder wie Mali und Niger gehören. Die Regionen stehen vor besonderen Herausforderungen, die durch ihre geografische Lage und politische Instabilität geprägt sind, stellten unsere Experten klar. Die Folgen dieser Herausforderungen äußern sich auch in zunehmender Migration und haben so direkte Auswirkungen auf Europa.

Karte des Maghreb: Über das Mittelmehr ist der Weg nach Europa kurz.

Migration – das drängendste Problem?

Migration wird heute von vielen Menschen in Deutschland, anderen EU-Mitgliedstaaten und auf globaler Ebene als Problem wahrgenommen. Die Diskussion konzentriert sich häufig auf strengere Grenzkontrollen und Maßnahmen zur Abschottung, um Migrationsbewegungen einzudämmen. Doch ist Migration wirklich ein Problem, das durch solche Maßnahmen gelöst werden kann? Politikwissenschaftler Siebo Janssen stellt klar, dass Migration grundsätzlich aus seiner Sicht kein Problem sei. Im Gegenteil, sie sei historisch betrachtet ein normales Phänomen. Die Wahrnehmung von Migration hänge stark von der Perspektive ab, ob diese eher optimistisch oder pessimistisch geprägt sei. Laut Janssen könne Migration in vielen Fällen sinnvoll und nützlich sein, etwa zur Bewältigung des demografischen Wandels in Europa oder zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels. „Allerdings gibt es auch eine Tendenz, Migration negativ zu instrumentalisieren, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren“, betont Janssen.

Historiker und Publizist Rasim Marz hingegen differenziert klar zwischen regulärer und irregulärer Migration. Während er reguläre Migration grundsätzlich als gewinnbringend ansieht, warnt er vor einem übermäßigen Ausmaß. Irreguläre Migration sei zunehmend problematisch, insbesondere im Zusammenhang mit aktuellen Krisen wie der Hungersnot im Sudan. „Diese Situation wird unweigerlich Auswirkungen auf Europa haben und das Erpressungspotenzial von Staaten in der Maghreb-Region gegenüber der EU erhöhen“, stellt der Historiker klar.

Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten stimmten Janssen und Marz in einem zentralen Punkt überein: Die Ursachen von Migration, wie Kriege und der Klimawandel, müssen bei der Lösungsfindung im Mittelpunkt stehen. Ohne die Bekämpfung dieser grundlegenden Probleme werde es schwierig sein, Migration auf eine Weise zu steuern, die allen Beteiligten gerecht wird.

Eine humane Steuerung von Migration

Um mit Migration human umzugehen, bedarf es eines umfassenden Wandels in der europäischen Politik, weg von der Idee einer „Festung Europa“ hin zu einer offenen, gerechteren und menschenwürdigen Herangehensweise, betonten unsere Experten. Marz und Janssen benannten in ihrer Diskussion mehrere entscheidende Aspekte, die zu einem solchen Wandel beitragen könnten. Ein zentrales Problem, das laut Marz angegangen werden muss, ist der wirtschaftliche Protektionismus der EU gegenüber Afrika. Insbesondere die von der EU erhobenen hohen Zölle erschweren afrikanischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Markt. „Diese wirtschaftliche Barriere verhindert, dass afrikanische Länder ihre Wirtschaft nachhaltig stärken können, was wiederum eine der Ursachen von Migration ist“, erklärt Marz. Wenn die EU ihren Handelspolitikansatz überdenken und gerechter gestalten würde, könne dies die wirtschaftlichen Perspektiven in vielen afrikanischen Ländern verbessern und somit den Migrationsdruck mindern.

Janssen betont ebenfalls, dass die systematische Abschottung, die von verschiedenen EU-Mitgliedstaaten betrieben wird und durch die EU-Kommission unterstützt wird, keine Lösung darstelle. Er verweist auf das Beispiel der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, die von hohen Grenzzäunen umgeben sind und an Marokko grenzen. „Diese Grenzen sowie das Mittelmeer sind regelmäßig Schauplatz von Tragödien, bei denen viele Migranten ihr Leben verlieren“, erklärt der Politik-Experte. Hier sieht Janssen nicht nur ein Versagen der nationalen Politiken Spaniens, Frankreichs und Italiens, sondern auch eine gescheiterte europäische Migrationspolitik.

Beide Experten sind sich einig, dass eine Entwicklung hin zu einer „Festung Europa“ langfristig das Verständnis von Migration negativ prägen wird. Janssen warnt davor, dass die fortschreitende Abschottung nicht nur die humanitären Krisen an den Außengrenzen verschärfen, sondern auch das gesamte europäische Selbstverständnis in Frage stellen wird. Die europäische Politik sollte vielmehr auf Kooperation, Menschenrechte und gerechte wirtschaftliche Bedingungen setzen, um Migration als Chance zu begreifen und human zu gestalten.

Wird die Festung Europa ausgebaut?

Laut Janssen nimmt die Entwicklung zu einer „Festung Europa“ zunehmend an Fahrt auf, was vor allem an der fehlenden kohärenten Migrations- und Asylpolitik auf EU-Ebene liege. Die Mitgliedstaaten wollten ihre Souveränität bewahren, was zu Grenzschließungen und fehlender Zusammenarbeit führt. Versuche, wie unter Jean-Claude Juncker, eine einheitliche EU-Politik zu schaffen, scheiterten, und das Dublin-Abkommen funktioniere nicht, da südliche Länder wie Italien und Spanien Flüchtlinge durchreisen lassen. Diese Situation verschärfe Spannungen und führe zu mehr und mehr Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums, wie jüngste Entwicklungen in Deutschland zeigen.

Janssen fordert daher eine einheitliche Asyl- und Außenpolitik der EU, um klare Regeln zu schaffen, wer bleiben kann und wer nicht. „Eine kohärente Politik, die humanitäre Kriterien und EU-Interessen gleichermaßen berücksichtigt, ist notwendig, um zu verhindern, dass Europa zu einer geschlossenen Festung wird“, betont der Politikwissenschaftler

Marz stimmt dem zu, stellt aber heraus, dass dies ein schwieriger, langwieriger Weg sei. „Ich sehe die Gefahr, dass die Mitgliedstaaten zunehmend den einfacheren Weg der Abschottung wählen, was sich bereits in der Entscheidung der deutschen Ampelregierung zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen und der Position der neuen niederländischen Regierung zeigt“, erklärt der Historiker. Auch prognostiziert er, dass sich das Verständnis von Migration in Europa in den kommenden Jahren drastisch verändern wird. In welche Richtung und wie weit diese Entwicklung geht, bleibe abzuwarten.