Die Impfstrategie der EU – Entscheidungen aus Brüssel, Perspektiven vor Ort (04.03.2021)
Wenn Politik auf Wissenschaft trifft – Am 4. März kamen bei unserer Videokonferenz zur Impfstrategie der Europäischen Union in Kooperation mit JEF NRW Vertreter:innen der EU-Politik und Dortmunder Mediziner:innen zusammen. Jutta Paulus MdEP, Dr. Jörg Wojahn, Prof. Dr. Carsten Watzl und PD Dr. Bernhard Schaaf diskutierten, moderiert von Martin Mödder, mit gut 40 Teilnehmer:innen. Das Thema: Die viel kritisierte, aber doch letztlich solidarische Strategie der Europäischen Union, Corona-Impfdosen gemeinsam zu beschaffen und fair in den Mitgliedsstaaten zu verteilen sowie die Auswirkungen der Brüsseler Entscheidungen ganz konkret vor Ort.
Stimmungsbild bei den Expert:innen eindeutig
Nach der Begrüßung durch unseren Europe-Direct Leiter Joris Duffner sowie Louisa von Essen als Vertreterin des Kooperationspartners JEF NRW übernahm Martin Mödder aus dem Rednerpool der Europäischen Kommission die Moderation und führte durch die 90-minütige Veranstaltung. Zunächst diskutierten die Podiumsteilnehmer:innen und beantworteten Fragen des Moderators, im zweiten Teil hatten alle Zuschauer:innen die Möglichkeit, direkte Nachfragen zu stellen. Als lockeren Auftakt erfragte Mödder in einem Blitzlicht das Stimmungsbild der Expert:innen: Daumen hoch für Zustimmung, Daumen runter für Ablehnung. Dabei zeigte sich: Im Großen und Ganzen schien sich unser Panel einig zu sein. Die generelle Strategie der EU und auch die gemeinsame Beschaffung der Impfstoffe hielten die Diskutant:innen durchweg für richtig. Jutta Paulus, Europa-Parlamentarierin, Pharmazeutin und gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im EP, fand jedoch, die Kommunikation zwischen Europäischem Parlament und Europäischer Kommission sei klar verbesserungswürdig.
Die Lage vor Ort in Dortmund – intransparente Kommunikation ein Problem
Zum Start der Diskussion informierte PD Dr. Bernhard Schaaf, Direktor der Klinik für Infektiologie und Pneumologie im Lungenzentrum des Klinikums Dortmund, über die momentane Lage vor Ort und die Impfbereitschaft im Kollegium des Krankenhauses: Seit Januar habe sich die Patient:innenzahl mit einem schweren Corona-Verlauf am Klinikum Dortmund halbiert und nun, seit mehr Impfdosen zur Verfügung gestellt werden, verbessere sich auch die Stimmung im Klinikum. Er kritisierte die unklare und intransparente Kommunikation zur Priorisierung und zur knappen Verfügbarkeit des Impfstoffes: „Die Intransparenz führte zu Ungerechtigkeitsgefühlen und die Werbung für AstraZeneca hat zu Unsicherheit geführt.“ Nun bessere sich die Lage langsam, seit mehr Impfstoff zur Verfügung steht. „Alle [am Klinikum] werden sich impfen lassen, wenn sie können.“ Außerdem fügte er hinzu, dass das Vorgehen der Europäischen Union nicht das Problem bei der vermeintlichen Unattraktivität des AstraZeneca-Impfstoffes sei, sondern die falsche Darstellung der wissenschaftlichen Untersuchungen in der Presse. Prof. Dr. Carsten Watzl, Leiter des Forschungsbereichs Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), ergänzte, dass es sich beim AstraZeneca-Impfstoff nicht um ein Wirkungs- sondern ganz klar um ein Imageproblem handelt, das zudem völlig unbegründet sei. Denn 94 Prozent der schweren Verläufe durch eine Infektion mit dem Coronavirus sind laut einer großen Untersuchung in Großbritannien durch eine Impfung mit dem Impfstoff verhindert worden. Der Immunologe würde sich „lieber heute mit Astra, als in Monaten mit einem mRNA-Impfstoff impfen lassen.“
Der strategische Ansatz der EU bei der Impfstoffbeschaffung
Dr. Jörg Wojahn, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission Deutschland, stellte im Anschluss den strategischen Ansatz der EU zur Impfstoffbeschaffung vor. Er betonte, dass die wichtigste Entscheidung die der gemeinsamen Beschaffung war. So sollte ein Mangel, wie zu Beginn der Pandemie beispielsweise an Schutzkleidung und Masken, verhindert und Konkurrenz sowie Missgunst zwischen den EU-Mitgliedsstaaten vorgebeugt werden. Außerdem war eine Mischung aus traditionellen Impfstoffen und innovativen mRNA-Impfstoffen gewollt, um sich breit aufzustellen. Die Verhandlungen mit den Unternehmen haben länger gedauert als beispielsweise in den USA, da die EU eine so genannte Ad-hoc-Zulassung ablehnte, welche die Gesamthaftung nicht bei den Unternehmen, sondern bei den Staaten bedeutet hätte. Dr. Wojahn betonte allerdings: „Es war nicht klug, dass wir bereits am 27. Dezember die Sektkorken knallen lassen haben.“ So war die Enttäuschung, dass zu Beginn sehr wenig Impfstoff vorhanden war, verständlicherweise groß. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass sich die Kritik an der zurzeit schleppend verlaufenden Impfkampagne im Rückblick relativieren wird. Es gebe aktuell drei Staaten, die schneller sind (Israel, USA, Großbritannien) und an denen werde die europäische Impfkampagne gemessen. Gleichzeitig könne sich hier Inspiration geholt werden. EU-Parlamentarierin Jutta Paulus kritisierte nochmals, dass das Europäische Parlament bei der Impfstrategie keine Rolle gespielt habe, die Kommunikation zwischen Parlament und Kommission hätte deutlich ausgebaut werden können. Finanzen hätten zudem nicht der entscheidende Faktor bei der Impfstoffbeschaffung sein dürfen: „Mit mehr Geld wären wir heute weiter!“ Gleichzeitig merkte sie an, dass es ein großes Glück sei, so früh so viele sichere Impfstoffe zu haben. Denn: Zu Beginn der Pandemie hieß es, dass es die ersten Impfstoffe frühestens um Ostern 2021 geben würde.
Langfristige Vorhaben der EU und die globale Verteilung
Erste Studien zeigen, dass die aktuell zugelassenen Impfstoffe auch bei der sogenannten britischen Mutante B.1.1.7 wirken, weshalb Prof. Dr. Watzl vermutet, dass die Corona-Impfung zwar generell aufgefrischt werden muss, aber nicht jährlich wie etwa die Grippeschutzimpfung. Er betonte bei unserer Videokonferenz, dass es wichtig sei, nun so schnell wie möglich alle Menschen zu impfen. Jutta Paulus forderte daraufhin, dass sich die EU noch mehr und vor allem schneller für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe auf der ganzen Welt einsetzte, und reagiert so auf die Frage eines Zuhörers zur globalen Verteilung der Impfstoffe. Sie lobte aber auch den ersten Schritt der internationalen COVAX-Initiative, die in der vergangenen Woche mit der Verteilung an Ghana und die Elfenbeinküste startete. Auch Dr. Schaaf vom Klinikum Dortmund betonte: „Wir können diese Pandemie nicht beenden, indem wir unsolidarisch sind.“ Es sei wichtig, dass nun finanzschwächere Staaten einen guten und schnellen Zugang zu Impfstoff bekommen, fügte Paulus hinzu. Aktuell betrieben China und Russland eine „schlaue Geopolitik“ mit ihren Impfstoffen, sagte die EU-Parlamentarierin. Sie zeigte sich besorgt, dass sich Länder wie beispielsweise Indien und Brasilien merken, dass kaum Impfstoff aus der EU, dafür aber von China und Russland käme. Dass in Ungarn und der Slowakei der russische Impfstoff Sputnik V bereits zugelassen und verabreicht wird, sei lediglich ein politisches Signal: Die Länder wollen sich nicht mehr auf die EU verlassen und verwenden den Impfstoff „vom großen Bruder aus dem Osten“. Dr. Wojahn stimmte zu, dass durch die Alleingänge einzelner Staaten bei der Zulassung von Impfstoffen Unsicherheit und Impfzögerlichkeit entstünden. Klare Forderung von Jutta Paulus: Verträge der Kommission mit den Impfstoffherstellern und vor allem die Haftungsklauseln müssten offengelegt werden, um alle Verunsicherungen aus dem Weg zu räumen.
Fragerunde der Zuschauenden: Eine Zuhörerin interessierte sich für eine mögliche Impfpflicht, vor allem für medizinisches Personal. Die Expert:innen waren sich daraufhin einig, dass eine Impfpflicht nicht in Frage kommt und vor allem nicht zielführend ist. Prof. Dr. Watzl und Dr. Schaaf unterstrichen, dass eine Impfpflicht in den Pflegeberufen in der Bevölkerung zu Skepsis führen könnte. Gleichzeitig müsse den Leuten deutlich gemacht werden, dass eine Immunisierung entweder durch eine Impfung oder durch eine Infektion erreicht werden kann. Prof. Watzl betonte: „Ohne Impfungen werden wir das Virus und die Pandemie nicht los!“ Dr. Schaaf machte ebenfalls deutlich, dass vor allem in Krankenhäusern, Infektionen nicht anonym verlaufen und man sich der Verantwortung bewusst sein müsse, wenn man sich nicht impfen lassen will.
„Lessons Learned“ – Lektionen aus einem Jahr Pandemiebewältigung
Zum Abschluss beantworteten alle Expert:innen die Frage einer weiteren Zuhörerin nach generellen Lehren aus den vergangenen Monaten und nannten jeweils eine ‚Lesson Learned‘, also eine Sache, die sie heute, nach einem Jahr Pandemie, anders gemacht hätten. Die Antworten:
PD Dr. Bernhard Schaaf betont, dass wir alle nach vorne schauen sollten und nicht zu viel auf die Politik geschimpft werden solle, sondern stattdessen konkret die nächsten Schritte geplant werden müssten.
Prof. Carsten Watzl wünscht sich gute Aufklärung und mehr Information. Es müsse ein Grundverständnis für die Wissenschaft geschaffen werden, um so für die Anerkennung von wissenschaftlichen Grundprinzipen zu sorgen.
Jutta Paulus beantwortet die Frage mit „Geschwindigkeit schlägt Präzision“. Dieser Grundsatz gelte für die Pandemie und auch für die Klimakrise. „Wir müssen in die Pötte kommen, es wird nicht besser, je länger man diskutiert, wartet und abwägt.“
Dr. Jörg Wojahn stimmt der EU-Parlamentarierin zu und ergänzt, dass man nicht zu große Erwartungen schüren solle, sondern lieber Bescheidenheit walten lassen solle: „Erwartungsmanagment ist sehr wichtig!“
Wir bedanken uns bei allen Expert:innen für den interessanten Austausch zwischen Politik und Wissenschaft, die neuen Erkenntnisse und bei allen Zuhörer:innen für die rege Teilnahme!
Text: Lea Mindermann