EU-Innenansichten vor der Europawahl – Vortrag von ARD-/WDR-Korrespondent Ralph Sina aus Brüssel (28.01.2019)
Ein Blick auf die aktuelle Situation der Europäischen Union direkt aus Brüssel erwartete unsere Besucher_innen bei unserer ersten Abendveranstaltung im Jahr 2019. Mit vielen brisanten Themen sowie einer ordentlichen Portion Humor und Wortgewandtheit brachte ARD-/WDR-Korrespondent Ralph Sina am 28. Januar 2019 die EU in das Dortmunder Rathaus. Dabei setzte er sich mit folgenden Fragen auseinander: Wie gestalten sich die Debatten zum Brexit momentan in Brüssel? Ist die so genannte ‚Flüchtlingskrise‘ schon vom Tisch? Was hat die Europawahl 2019 für eine Bedeutung?
Die Bürgermeisterin der Stadt Dortmund, Birgit Jörder, und der Präsident der Auslandsgesellschaft.de e.V., Klaus Wegener, sprachen ein kurzes Grußwort bevor Ralph Sina das Wort ergriff.
Brexit oder kein Brexit?
„Niemand weiß das. Wenn jemand das weiß, hat er keine Ahnung.“, so Sina. In der Geschichte der EU habe es noch nie eine derart zugespitzte Situation gegeben. Dementsprechend sei man in Brüssel sehr besorgt.
Der britischen Regierung würden angesichts der prekären Situation drei Möglichkeiten des geregelten Austritts bleiben:
Zum einen könnte sie den Brexit zurückziehen, um zu einem späteren Zeitpunkt einen erneuten Austritt zu beantragen. So könnten sie Zeit gewinnen, sich über die eigenen Austrittsmöglichkeiten und -pläne klar werden und spätere Verhandlungsgespräche mit der EU neu vorbereiten, erklärte Sina.
Die zweite Möglichkeit sehe vor, dass die britische Regierung sich mit einer Zollunion zufrieden gebe. Dies würde bedeuten, dass Großbritannien und die EU interne Zölle eliminieren und gemeinsame Außenzölle schaffen. Jedoch wäre Großbritannien infolgedessen nicht in der Lage, eigene Handelsabkommen abzuschließen.
Eine weitere Möglichkeit wäre das sog. Norwegen-Szenario. Hier würde Großbritannien zwar im EU-Binnenmarkt bleiben, jedoch als politischer Akteur aussteigen.
Welches Modell letztendlich gewählt würde, sei nur schwer vorhersehbar, so Sina. Im Moment sehe es sogar so aus, als ob ein ungeregelter Austritt die wahrscheinlichste Variante darstelle.
Dies läge vor allem am Vorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, welcher die EU ablehne und die Verhandlungen verkompliziere. Die EU auf der anderen Seite wäre bereit, Großbritannien entgegenzukommen und jede der drei geregelten Möglichkeiten zu verhandeln sowie den Scheidungstermin zu verschieben.
Sollte es zum harten Brexit kommen, „dann gnade uns Gott und vor allem den Briten!“, sagte Sina. Wirtschaftlich sei der ungeregelte Brexit ein Desaster: Die EU sei wichtigster Handelspartner Großbritanniens und Großbritannien ein wichtiger Handelspartner für die EU. Rund 40.000 Arbeitsplätze könnten bei einem harten Brexit verloren gehen. Ein solcher, sagte Sina, würde jedoch nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen für Großbritannien und die EU mit sich ziehen. Man schaue sich allein den Fußball an: Im Falle eines ungeregelten Austritts müssten nicht nur die Spieler von Borussia Dortmund Visen für Spiele gegen z.B. Liverpool beantragen, sondern auch die mitreisenden Fans.
Wendepunkt: Europawahl 2019
Die Europawahl 2019 sei eine besondere und außerordentlich wichtige Wahl. Es sei das erste Mal in der Geschichte der EU, erklärte Sina, dass das System der EU durch Rechtspopulist_innen massiv angegriffen werde. Stephen Bannon, Marine Le Pen, Victor Orbán und Jarosław Kaczyński zeigten aktuell, dass die europäische Rechte nicht unfähig sei, an einem Strang zu ziehen. Zwar würden sie inhaltlich nicht auf einen Nenner kommen, aber der Hass schweiße sie zusammen. Gemeinsames Ziel sei nicht, die EU direkt abzuschaffen. Stattdessen wolle man sie zunächst zum Erlahmen bringen. Eine Mehrheit von Rechten im Europäischen Parlament könnte wichtige Arbeitsprozesse in der Institution zum Stocken bringen und das Parlament schlimmstenfalls arbeitsunfähig machen.
So auch bei der Wahl des*r Kommissionspräsident*in. Diese Position muss vom Europäischen Parlament abgesegnet werden; meist handelt es sich um den*die Spitzenkandidat*in der Fraktion, die in der Wahl die meisten Stimmen erhalten hat. Um die Person in diesem Posten zu bestätigen, muss mit einer qualifizierten Mehrheit im Europäischen Parlament abgestimmt werden. Sina befürchtet, dass der Mehrheitsgarant – die Fraktionen der Sozialdemokrat*innen und der Europäischen Volkspartei – bei der Europawahl nicht gewinnen werden, und somit mehr Parteien ins Boot geholt werden müssten. Die Arbeit in einem solchen fragmentierten Parlament könne sich schwierig gestalten.
Die Europawahl gelte fälschlicherweise als relativ unwichtig, so Sina. Dieser Eindruck müsse geändert werden. Jungen Menschen müsse die Wahl wieder schmackhaft gemacht werden und das geschehe vor allem durch eine korrekte Informationsvermittlung und die Verknüpfung der EU mit dem Alltag. Eine hohe Wahlbeteiligung sei die einzige Chance für ein starkes, arbeitsfähiges Europäisches Parlament, plädierte Sina.
Flüchtlingsbewegung: schon vorbei?
Die Flüchtlingsbewegung nach Europa sei noch lange nicht vorbei, so Sina, es würde in den Medien und der Öffentlichkeit nur weniger darüber gesprochen. Man müsse in den Ländern, aus denen die Geflüchteten kommen, selbst ansetzen und dort unterstützen, um die Bewegungen nach Europa zu minimieren. Als Beispiel nahm er Nigeria, welches im Jahr 2050 voraussichtlich die drittstärkste Bevölkerungsrate haben werde. Im Moment seien dort rund 40% der Jugendlichen ohne Aussicht auf Arbeitsplätze und auch die Rechte der Frauen seien so gut wie nicht vorhanden. Die EU müsse Afrika stärker unterstützen, um solchen Trends entgegenzuwirken.
Diskussion mit dem Publikum
Nach dem Vortrag folgte eine hitzige und ausführliche Diskussion, in der das Publikum jede Sekunde nutzte, um die Expertise des Referenten anzuzapfen.
Es müsse ein öffentlicher Raum geschaffen werden, um in der EU miteinander diskutieren und debattieren zu können, betonte Sina. Lediglich „Arte“ besäße ein europäisches Programm, ansonsten gebe es keine Medien, die die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit begünstigen. Dies sei vonnöten, damit „die EU ein Gefühl werden kann. Es muss klar werden, dass sie etwas Großartiges ist!“, sagte Sina.
Daraufhin fragte eine Zuschauerin, ob es Sinas Ansicht nach ein zukunftsweisendes Projekt gebe, um eine solche emotionale Bindung zu schaffen. Das ursprüngliche und noch heute bestehende Friedensprojekt EU sei das beste Argument für ein zukunftsweisendes Projekt der EU, antwortete der Referent. Neue didaktische Wege müssten gefunden werden, um dieses Projekt wieder zum neuen Glanz zu verhelfen. Ein weiteres Projekt, welches in Zukunft wegweisend sein könne, sei der Zusammenschluss der Mitgliedstaaten zu einem europäischen Energieraum, denn nur so sei die EU langfristig in der Lage, den USA und China die Stirn zu bieten.
Woher kommen die Skepsis bzw. die Abneigung vieler Bürger*innen gegenüber der EU? Diese Frage brachte auch den sprachgewandten Journalisten ins Grübeln. Ein Kernpunkt sei die sich verbreitende Verunsicherung der Bürger*innen in unserer komplexen globalisierten Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sei Migration ein relevantes Thema. Laut Sina werde die Integration von Geflüchteten und Migrant*innen in die europäische Gesellschaft als komplexer Prozess erlebt, für den das subjektive Gefühl oft in Richtung Kontrollverlust schwanke. Zudem sei die Digitalisierung, die mit künstlicher Intelligenz einhergehe ein weiterer Faktor für Verunsicherung und Angst. Die bekannte Parole „Früher war alles besser.“ entstehe letztendlich aus einer fehlenden Mindestsicherheit in diesem Bereich. Dies seien jedoch nur Versuche der Erklärung, betonte Sina.
Die Veranstaltung wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. in Kooperation mit der Stadt Dortmund organisiert.
Text: Eileen Eisenhut, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Milica Kostic und Lena Borgstedt, Auslandsgesellschaft.de e.V.