EU-Ratsvorsitz von Ungarn – Prioritäten und aktuelle Herausforderungen (22.08.2024)
35-jähriges Jubiläum der Grenzöffnung, 20 Jahre in der Europäischen Union, 25 Jahre in der NATO und den aktuellen EU-Ratsvorsitz – viel mehr Gründe, für Ungarn im politischen Mittelpunkt zu stehen, kann es momentan nicht geben. Umso passender war der Besuch von Gergő Szilágyi, Generalkonsul von Ungarn in Düsseldorf, hier in der Auslandsgesellschaft.de. Am 22. August stellte er die Prioritäten der Ratspräsidentschaft seines Landes vor und ging auch auf kontrovers diskutierte Entwicklungen in Ungarns Politik ein.
Welche Ziele verfolgt die ungarische Regierung während ihrer Ratspräsidentschaft, auch vor dem Hintergrund der globalen sicherheitspolitischen Situation? Wie wird die momentane Situation der EU in Budapest wahrgenommen? Und welche Zukunft stellt man sich in Ungarn für die Union vor? Neben der Diskussion über diese politischen Fragen konnten unsere Gäste eine spannende Fotoausstellung des Generalkonsulats „Ungarn im Herzen Europas – Bilder einer modernen Erfolgsgeschichte“ im großen Saal besichtigen.
Ungarn: geprägt von turbulenter Geschichte
Ungarns Selbstverständnis als EU-Mitgliedsstaat und sein Verständnis der Europäischen Union seien eng verknüpft, stieg Generalkonsul Szilágyi in seinen Vortrag ein. So sei das Land nicht erst seit seinem EU-Beitritt 2004, sondern schon seit Anbeginn seiner stürmischen Geschichte überzeugt europäisch. Es verstehe sich seit mehr als 1000 Jahren als souveräner, christlicher und europäischer Staat, der immer von der Idee Europas bereichert wurde und dazu auch selber beigetragen hatte. Auch während der Zeit unter dem Einfluss der Sowjetunion habe man die Verwurzelung in Europa nie vergessen. Ungarn sehe die EU als Gemeinschaft souveräner Staaten, so der Generalkonsul: „Vor allem die Vielfältigkeit und Stärken der einzelnen Mitgliedsstaaten sind für Ungarn entscheidend – die daraus resultierenden Synergien bringen Fortschritt für die gesamte EU.“
Make Europe great again: Ungarns EU Ratspräsidentschaft
Das Motto der ungarischen Ratspräsidentschaft „Make Europe great again“ – von vielen als Trump Analogie verstanden – betone vielmehr die Notwendigkeit für Dynamik, um die Zukunft einer stärkeren und erfolgreicheren EU zu sichern, so der Generalkonsul. „Das ist keine überhebliche These, sondern Gebot der Stunde“ und schließt sich thematisch an das Motto „strong Europe“ von Ungarns erster Ratspräsidentschaft 2011 an. Welche Prioritäten stehen für Ungarn nun im Mittelpunkt der bis Ende des Jahres andauernden Ratspräsidentschaft? János Bóka, Ungarns Minister für Europäische Angelegenheiten, brachte es bei der Vorstellung der Ratspräsidentschaft in Brüssel auf den Punkt: „Europa steht vor den gemeinsamen Herausforderungen des Krieges in unserer Nachbarschaft, des globalen Wettbewerbs, einer fragilen Sicherheitslage, der illegalen Migration, der Naturkatastrophen, der Auswirkungen des Klimawandels und der demografischen Situation“.
Stärkung von Europas Wettbewerbsfähigkeit und der europäischen Verteidigungspolitik
Generalkonsul Gergő Szilágyi betonte: „Europa braucht eine ideologiefreie Industriestrategie und einen freien Wettbewerb.“ Europa habe mehr Dynamik und Erträge von Außerhalb nötig und könne sich eine Abschottung nicht leisten. In diesem Zusammenhang zeige sich Ungarn besonders offen für wirtschaftsfördernde Maßnahmen. In Bezug auf den Green Deal sei Ungarns Ziel, dass die grüne Transformation nicht der Wirtschaft schaden solle. Der Fokus liege zudem auf dem Ausbau strategischer Autonomie im Sicherheitsbereich, der vor allem seit dem EU-Austritt Großbritanniens an Bedeutung gewonnen hat. Eine Zusammenarbeit, wie sie Unternehmen der deutschen und ungarischen Verteidigungsindustrie schon betreiben, solle auch auf EU-Ebene als Blaupause betrachtet werden – insbesondere was die Innovation angeht.
EU-Erweiterung auf dem westlichen Balkan, Freiheit der Mitgliedstaaten bei Migrationspolitik
Die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan sei dringend notwendig, betonte Generalkonsul Szilágyi. Und es liegt vor allem im Interesse der Union – was die Stabilität und Sicherheit des Kontinents, nicht zuletzt seine wirtschaftliche Dynamik angeht. Deswegen will Ungarn so effektiv wie möglich zum Fortschritt der Beitrittsverhandlungen beitragen, zugleich plant es einen Balkangipfel während seines Ratsvorsitzes.
Bezüglich Einwanderung akzeptiert Ungarn, dass jeder EU-Mitgliedstaat (natürlich im Rahmen des Acquis Communautaire), nach eigenem Ermessen mit der Frage umgeht – dieses Recht beansprucht es jedenfalls auch für sich. Illegale Migration soll jedoch gestoppt werden, so der Generalkonsul. Wirkliche, effektive Hilfe für notleidende Menschen könne aus Sicht Ungarns ohnehin in den Heimatländern erbracht werden – dafür arbeite man im Rahmen des Programms „Hungary Helps“ seit längerem mit starkem Engagement.
Reform der Kohäsionspolitik und der Agrarpolitik
Budapest möchte die Erneuerung der Kohäsionspolitik in Richtung Wachstum und Beschäftigung vorantreiben, stellte Generalkonsul Szilágyi klar. Ungarn profitiert selbst seit langem von diesen Quellen – einige „Früchte“ konnten auch in der mitgebrachten Ausstellung bewundert werden. Man strebe gleichwohl an, ab Anfang der 2030er Jahre dank einer zügigen Aufschließung Netto-Beitragszahler zu werden.
Die Stabilität der Agrarwirtschaft sei ebenfalls grundlegend für die EU, da „Stabilität, Stärke und Autonomie nicht ohne Ernährungssicherheit existieren.“ Dies werde jedenfalls nur durch einen engen Dialog mit Landwirten erreicht.
Politische Maßnahmen gegen den demographischen Wandel
Der Generalkonsul schloss seinen Vortrag mit einigen Bemerkungen zum demographischen Wandel, denn der erwartbare Bevölkerungsschwund stellt für die gesamte Europäische Union eine große Herausforderung dar. Während viele Mitgliedsstaaten ihre sinkenden Geburtenraten vorerst über Migration auszugleichen versuchen, forciere Ungarn durch aktive Familienpolitik diese wieder zu steigern. So verzeichnete das Land eine Zunahme der Geburtenrate von 1,2 zu 1,6 in den vergangenen Jahren. Über die einschlägigen Erfahrungen, bzw. Herausforderungen möchte das Land als Ratspräsident auch auf EU-Ebene eine strategische Debatte führen.
Klar wurde allen Gästen: Die vorgestellten Prioritäten lassen auf ein ambitioniertes Programm für Ungarns Ratspräsidentschaft schließen – Ambitionen, welche die Europäische Union in der aktuellen Situation sicherlich nötig hat.