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Europa als Sozialunion – Realität oder Fiktion? (29.06.2017)

Am 29. Juni 2017, dem letzten Tag der Veranstaltungsreihe „Kann Europa als Sozialunion gelingen?“, wurde über ebendiese Frage in einer finalen Podiumsdiskussion debattiert. Moderiert von Jutta Reiter (Vorsitzende des DGB Dortmund-Hellweg), tauschten sich Terry Reintke (Mitglied des Europäischen Parlaments), Heinz-Wilhelm Schaumann (Mitglied des Rednerdienstes TEAM EUROPE der Europäischen Kommission), Dr. Florian Spohr (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum) und Birgit Zoerner (Sozialdezernentin der Stadt Dortmund) darüber aus, wie die aktuelle Lage in Europa aussieht und ob es sich bei der Vorstellung von Europa als Sozialunion um ein realisierbares Großprojekt oder lediglich um einen Wunschgedanken handelt. Die Veranstaltung wurde vom Europe Direct Dortmund und der Auslandsgesellschaft NRW e.V. ausgerichtet. Kooperationspartner waren der DGB Dortmund-Hellweg und die Stadt Dortmund.

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Von links: Heinz-Wilhelm Schaumann (Mitglied des Rednerdienstes TEAM EUROPE der Europäischen Kommission), Lena Borgstedt (Europe Direct Dortmund), Jutta Reiter (Vorsitzende des DGB Dortmund-Hellweg), Birgit Zoerner (Sozialdezernentin der Stadt Dortmund), Dr. Florian Spohr (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum), Klaus Wegener (Präsident der Auslandsgesellschaft NRW e.V.) und Terry Reintke (Mitglied des Europäischen Parlaments).

Eröffnet wurde die Podiumsdiskussion vom Präsidenten der Auslandsgesellschaft NRW e.V., Klaus Wegener. Er wies darauf hin, dass es sich um eine gigantische politische Leistung handele, was Europa bislang erreicht habe. Europa könne seiner Meinung nach „nur als Sozialunion“ gelingen. Mit diesem Statement wurde auch der anschließende Impulsvortrag Schaumanns eingeleitet, der den Teilnehmenden eine ganze Reihe an Denkanstößen lieferte.

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Impulsvortrag von Heinz-Wilhelm Schaumann

Soziale Lage bereite den Europäer*innen Sorge
Jede*r europäische Bürger*in könne sich auf die Sozialrechte in der Grundrechtecharta berufen und die Sozialsysteme der jeweiligen Mitgliedsländer gleichen sich immer mehr an; Europa habe auch verschiedenste Ziele in Bezug auf die Sozialpolitik initiiert und vorangebracht. Faktisch, so Schaumann, bestünden jedoch weiterhin unterschiedliche Bedingungen in den Mitgliedsländern, was zu einem Wohlstandsgefälle führe. Arbeitslosigkeit, Migration und soziale Ungleichheiten – das seien die größten Sorgen der europäischen Bürger*innen.

Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme mangelhaft
In der darauffolgenden Podiumsdiskussion kamen schnell scharfsinnige, kritische Stimmen auf. Das Problem finde in den Kommunen statt und es gäbe insgesamt Regelungsdefizite, so Zoerner. Und: „Wir haben europaweit ein Verteilungsproblem.“ Auch Reintke bestätigte, dass es bestimmte Entwicklungen gäbe, die schlecht von den Kommunen aufgenommen werden und allgemein „viele Stellschrauben“ existieren würden. Spohr ergänzte, die Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme funktioniere von Anfang an grundsätzlich nicht gut, da es einer Einstimmigkeit bedarf, um Verträge zu ändern. Dies definierte er als einen „Geburtsfehler der EU“. Die Strukturen, die von der EU aufgesetzt werden, führen nur noch mehr dazu, dass es Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten gebe, so Zoerner. Insbesondere die Tatsache, dass die Ausgestaltung der Sozialpolitik weiterhin fest in den Händen der Nationalstaaten liege, korreliere ihrer Ansicht nach nicht mit dem Gedanken einer Sozialunion.

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Lösungsansätze müssen her
Es stellt sich nun die Frage, wie man gemeinsame Standards entwickeln kann, um eine Sozialunion aufzubauen. So müssten laut Zoerner „stärker Europa-gesteuerte Strukturprogramme“ auferlegt werden, damit es zu einer schrittweisen Angleichung der Mitgliedstaaten komme. Weiterhin sei es von besonderer Wichtigkeit, die Grundrechte – zu denen die sozialen Rechte gehören – zu beachten, so Reintke. Zudem müssen die Europäische Bürgerinitiative wie auch das Parlament weiter gestärkt werden, indem letzterem beispielsweise mehr Initiativrecht eingeräumt werde. Insgesamt müsse alles transparenter gestaltet werden, fasst Reintke zusammen. Spohr konstatierte: „Wir brauchen europäische Sozialpolitik in den Verträgen“ und forderte, dass statt einer Einstimmigkeit die Mehrheit beim Europäischen Rat bereits ausreichen solle, da so Europa als Sozialunion realisierbarer wäre. Schaumann positionierte sich dafür, Europa schrittweise zu einem Bundesstaat umzufunktionieren. Auch ein Teil des Publikums unterstützte diesen Gedanken und sprach sich für die „Vereinigten Staaten von Europa“ aus. Dabei sei der Blick über die Tellerränder, über die Nationen hinaus vonnöten, was keine leichte Aufgabe darstelle, so Schaumann.
Die Sachverhalte sollten demnach nicht mehr nur national gesehen werden – so der Wunsch der Referent*innen. Dass es nicht einfach und politisch schwer sein wird, dies in die Tat umzusetzen, steht außer Frage – aber eine Sache der Unmöglichkeit ist es auch nicht, vorausgesetzt alle Europäer*innen ziehen an einem Strang – trotz all der Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen.

Text: Karen Majer
Fotos: © Auslandsgesellschaft NRW e.V. / Svenja Hennigfeld