2017_12_15 Expertenrunde Flucht

Fachaustausch „Flucht und Migration in Europa“ (04.12.2017)

Am 04.12.2017 fand im Europe Direct Dortmund zum zweiten Mal ein Fachaustausch zum Thema „Flucht und Migration in Europa“ statt. Expert*innen aus Praxis und Wissenschaft diskutierten mit den Teilnehmer*innen in drei verschiedenen Themencafés unterschiedliche Fragestellungen.

Vorgestellt wurde dabei auch die Publikation „Zuwanderung von Geflüchteten nach Europa. Chancen und Perspektiven“ mit Beiträgen von Alina Lisa Bergedieck, Christiane Certa und Simon Goebel. Sie enthält Ausschnitte aus den Arbeiten von drei der Expert*innen des Fachaustauschs 2016. Der Austausch fand im Juni 2016 im Rahmen der Projektwoche „(Neue) Heimat Europa? Die EU-Flüchtlingspolitik im Fokus“ statt.

Die Teilnehmer*innen der diesjährigen Veranstaltung erhielten die Möglichkeit, an allen drei Cafétischen der Expert*innen Platz zu nehmen und sich sowohl untereinander als auch mit den Expert*innen auszutauschen. Im Anschluss wurden die Gesprächsergebnisse unter der Moderation von Kay Bandermann vom Deutschen Journalistenverband im Plenum zusammengetragen und diskutiert.

Netzwerke und Austausch – Welche Möglichkeiten der Kooperation gibt es und was wird aktuell dringend benötigt?

Gastgeberin: Karola Jaschewski, FreiwilligenAgentur Dortmund

2017_12_15 Expertenrunde Flucht

„Davon, dass Menschen in ihren Wohnungen angekommen sind, sind sie noch lange nicht integriert“, bemerkte Karola Jaschewski. Freiwillige Arbeit könne hier jedoch zumindest unterstützen, um neu angekommenen Geflüchteten Hilfestellung zu bieten. Als die Zuwanderung von Geflüchteten im Jahr 2015 auch in Dortmund offensichtlich präsent wurde, habe sich eine Vielzahl an Menschen sozial engagiert. Diese Hilfe sei zu Anfang jedoch noch sehr unstrukturiert und unorganisiert gewesen. Es bildeten sich Organisationen, um die Ehrenamtlichen zu unterstützen, jedoch hätten diese etwas länger gebraucht, um ihre Strukturen aufzubauen. U. a. wurden Ehrenamtskoordinator*innen eingestellt, um Leitlinien für das Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe zu entwickeln. Ehrenamtliche schlossen sich zu einer Gruppe von Gleichgesinnten zusammen – das Netzwerk Ehrenamt wurde gegründet.

Auch die Wissenschaft sei auf die Freiwilligenarbeit und ihre Organisationen aufmerksam geworden, so Jaschewski. Student*innen seien auf die sozialen Einrichtungen zugegangen, um für ihre Abschlussarbeiten Interviews zu führen. Den Ansturm an plötzlichem Interesse hätten die Organisationen jedoch nicht ad hoc bewältigen können. Leider sei die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und sozialen Akteuren nicht strukturiert genug verlaufen. „Wie kann Wissenschaft uns unterstützen und welche Chancen haben wir dadurch?“, ist eine Frage, die Jaschewski und wahrscheinlich auch viele andere sich immer noch stellen. Des Weiteren müsse diskutiert werden, wie ein Zusammenwirken gestaltet werden könne und welche Rahmenbedingungen dafür notwendig seien.

Das Themencafé bot den Teilnehmer*innen die Möglichkeit, über persönliche Erfahrungen zu reden und Problemstellungen anzusprechen. Eine Teilnehmerin erzählte von einem Ehrenamtlichen, der sich stark engagiere. Er finde jedoch keine passende Plattform für Ehrenamtliche, auf der sie sich austauschen und über Probleme sprechen könnten. „Internet ist gleichzusetzen mit Essen“, sagte eine weitere Teilnehmerin. Das Medium sei für Geflüchtete (insbesondere Jugendliche) enorm wichtig, um soziale Kontakte zu halten. Jedoch hätten Einrichtungen und Unterkünfte nur wenig Zugang zum Internet und zu Computern im Allgemeinen. Im Ehrenamt stünden emotionales Engagement und Ahnungslosigkeit einander gegenüber – dies sei ein Problem bei der Arbeit mit Freiwilligen und mache Hauptamtlichen die Arbeit schwer, bemerkte ein Teilnehmer.

Die Teilnehmer*innen der Gesprächsrunde waren sich einig, dass insbesondere Ehrenamtliche, die ohne Organisation auf eigene Faust arbeiten, oftmals ein Problem darstellten. Ihnen fehle oft organisatorische Unterstützung und nötiges Fachwissen, was zu einem Nähe-Distanz-Konflikt in der Beziehung zu den Geflüchteten führe. Dabei käme es oftmals zu einer gut gemeinten Bevormundung der Asylsuchenden, jedoch laute das Motto in der Flüchtlingshilfe „Hilfe zur Selbsthilfe“, kommentierte eine Teilnehmerin. Vielen in der Gesprächsrunde sei ein starker Rückgang des ehrenamtlichen Engagements in den letzten Monaten aufgefallen. Ein Teilnehmer schlug vor, die Menschen, die ihr Ehrenamt niedergelegt haben, nach ihren Ausstiegsgründen zu fragen. Dies liefere nicht nur allgemeine Informationen, sondern könne auch dabei helfen, die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen zu verbessern und Schwachstellen in der Organisation aufzudecken.

Berichterstattung europäischer Medien zum Thema Flucht und Migration

Gastgeber: Prof. em. Dr. phil. Michael Haller, Leiter des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK)

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„Versuchen Sie, für einen Moment zu vergessen, was Sie beruflich tun“, betonte Prof. em. Dr. phil. Michael Haller  zu Beginn seines Themencafés. Er stellte die Frage, was die zentrale Aufgabe von Informationsmedien sei. Eine Teilnehmerin antwortete, dass sie so objektiv wie möglich informieren sollten – viele Medien seien nicht neutral. Eine weitere Teilnehmerin fügte hinzu, dass verschiedene Perspektiven eingenommen werden müssten, um eine differenzierte Berichterstattung zu gewährleisten. Es sei in Ordnung, wenn es verschiedene Meinungsmedien gebe, die ihre Positionen klar äußerten, es müsse jedoch eine strikte Trennung von Tatsache und Meinung stattfinden, kommentierte ein Teilnehmer. Dieser Aussage schlossen sich viele Gesprächsteilnehmer*innen an; für den öffentlichen Diskurs brauche man auch impulsgebende Meinungsmedien. Ein weiterer Teilnehmer äußerte den Gedanken, dass Medien als Kontrollinstanz der Demokratie fungieren könnten, um die gegenwärtige Politik kritisch zu hinterfragen. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung sollten Informationsmedien nicht nur eine Sicht der Dinge vermitteln, sondern unterschiedliche Positionen innerhalb der Gesellschaft aufgreifen.

Die Flüchtlingsthematik sei im Jahr 2015 emotional aufgeladen gewesen, sie habe eine stark polarisierende Form angenommen, bemerkte Haller. Eine Untersuchung von Presseartikeln von 2015 bis Anfang 2016 habe ergeben, dass die Medien zu dieser Zeit praktisch nur die Perspektive der Bundesregierung vermittelt hätten. Die Bevölkerung habe die Politik dabei als sehr chaotisch wahrgenommen, z.B. was eine klare Definition von sicheren Herkunftsländern betreffe. Die sogenannte „Willkommenskultur“ sei erst zu dieser Zeit moralisch aufgeladen gewesen, es habe eine regelrechte Kampagne in den Medien gegeben. Insbesondere die Formulierungen hätten dabei einen starken Einfluss auf den Inhalt gehabt: Man habe überall von Flüchtlingen gesprochen. Bei neun Nennungen von „Flüchtlingen“ und „Migranten“ sei eine Relation von acht zu eins festgehalten worden.

Die Silvesternacht 2015 habe zu einem Perspektivwechsel geführt: Die euphorisierte Willkommenskultur habe nun der Enttäuschung über eine „chaotische Flüchtlingspolitik“ gegenüber gestanden. Ein erheblicher Teil der Erwachsenen habe infolgedessen den Eindruck, die Medien in Deutschland hätten versagt, ihre Glaubwürdigkeit werde infrage gestellt. Ein Teilnehmer kritisierte diesbezüglich die einseitige Berichterstattung: Es werde lediglich über das Fluchtphänomen berichtet, aber nicht über die Fluchtursachen per se – dies führe im Umkehrschluss auch zu einer einseitigen Wahrnehmung der Thematik in der Gesellschaft. Ferner wurde die Beobachtung angesprochen, dass tatsächlich Betroffene bzw. Beteiligte kaum zu Wort kämen, es seien hauptsächlich Politiker*innen, die sich zu der Situation äußerten. Fachleute, die über eine wirkliche Expertise verfügten, kämen hingegen überhaupt nicht zu Wort. Es könne also aktuell nicht von der Repräsentation verschiedener Positionen in den Medien gesprochen werden, vielmehr handle es sich momentan um eine mediale „Einbahnstraße“.

Veränderungen in der praktischen Arbeit, der Versorgung und Betreuung Geflüchteter

Gastgeberin: Christiane Certa, Diplom-Soziologin und Sozialplanerin der Stadt Dortmund

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„Was hat sich im Bereich der Neuzuwanderung nach Dortmund in den letzten paar Jahren getan?“, fragte Christiane Certa. Ca. 20.000 Menschen seien als EU2-Bürger*innen oder als Geflüchtete bzw. deren Familienangehörige in die Stadt gekommen. Hinsichtlich der Geflüchteten habe die Aufnahme, Versorgung und Unterbringung gut funktioniert. Nun liege die Herausforderung darin, die nachhaltige gesellschaftliche Teilhabe zu sichern, das sei die schwieriger zu lösende Aufgabe. Egal ob Schule, Ausbildung oder Deutschkurse, psychosoziale Beratung, Arbeitsmarktintegration oder Wohnungsmarktzugänge: Vieles funktioniere in der Theorie, in der Praxis stoße man jedoch immer wieder an Grenzen. Es seien die tatsächlichen Bedarfe realistisch einzuschätzen, passgenaue Lösungsansätze zu entwickeln und die Angebote umzusetzen. „Dafür braucht es Geld, das die Ankunftsstädte nicht haben. Ein ‚wir schaffen das‘ seitens der Bundesregierung hilft nicht weiter.“, kommentierte Certa.

Nicht jedes Problem zu individualisieren, war in der Gesprächsrunde ein zentraler Punkt. Es seien vielmehr Strukturprobleme, die gelöst werden müssten, insbesondere im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitssystem und in der Psychotherapie. U.a. müssten bürokratische Hemmnisse abgebaut werden, z.B. in der Frage der Passbeschaffung. Ein Teilnehmer sprach die Problematik an, dass Geflüchtete vom Staat mehr Geld erhielten, wenn sie nichts täten, als wenn sie eine Ausbildung machten. Dadurch würden falsche Anreize geschaffen. Das müsse geändert werden, damit Geflüchtete motiviert würden, eine Ausbildung aufzunehmen. Eine Teilnehmerin äußerte das Anliegen, einen leichteren Zugang zu Informationen zu schaffen. Vielen Geflüchteten fehlten beispielsweise die Kenntnisse, wie sie Unterstützungsmaßnahmen beantragen können und welche ihnen überhaupt zur Verfügung stünden. Die Themen Migration und Integration müssten außerdem in der Öffentlichkeit insgesamt positiver behaftet sein, z.B. durch die Wirtschaftskraft ethnischer Ökonomie, bemerkte ein anderer Gesprächsteilnehmer.

Des Weiteren wurde das Problem der Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen und Qualifikationen diskutiert. Viele Geflüchtete hätten zwar mindestens einen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung, jedoch berechtigten diese in Deutschland oftmals nicht zu einer Ausübung des entsprechenden Metiers. Bei der Betrachtung der Herausforderungen waren sich die Teilnehmer*innen einig: Viele Herausforderungen sind nicht allein auf die Zuwanderung zurückzuführen; meist werden Strukturprobleme und -defizite offengelegt, die auch bei anderen Bevölkerungsgruppen zu schwierigen Situationen führen.

Diese und weitere Handlungsfelder seien zwar bereits mehrfach benannt worden, Lösungen gebe es aber für viele offene Fragen noch nicht, auch fehle teilweise ein gemeinsamer Konsens über die Ziele. Dazu sei es unerlässlich, einen Diskurs zu ermöglichen, vor Ort in der Stadt, aber auch auf Landes-, Bundes oder EU-Ebene. Dieser Diskurs dürfe schwierige Fragen nicht ausklammern. Wichtig sei es, die Migrant*innen als Expert*innen in eigener Sache zu beteiligen, an ihren Potenzialen anzusetzen und sie als Botschafter*innen zu gewinnen.

 

Podiumsdiskussion

2017_12_15 Expertenrunde Flucht

In einer an die Themencafés anschließenden Podiumsdiskussion stellten die Expert*innen die Bilanz der jeweiligen Gesprächsrunden vor und diskutierten diese mit dem Wirtschaftsjournalisten Kay Bandermann. Haller bezog Position zur aktuellen Situation im Journalismus: Es sei schwierig, die Journalisten dazu zu bringen, in ihrer Arbeit mehr zu differenzieren, da sie eigentlich gelernt hätten, komplexe Sachverhalte zu abstrahieren. „Worauf sollen Medien sich jetzt fokussieren?“, fragte Bandermann. Haller hob auch diesbezüglich die Wichtigkeit hervor, betont zu differenzieren, es sei in der letzten Zeit viel zu stark entdifferenziert worden – insbesondere in Bezug auf das Schlagwort „Flüchtling“. Durch diesen Sachverhalt hätte die Bevölkerung falsche Vorstellungen von der momentanen Situation erhalten. Als Lösung des Problems schlug Haller vor, den Lokaljournalisten eine Kombination aus Kritik und Hilfe zukommen zu lassen, um ihre Arbeit Stück für Stück zu verbessern.

„Gesellschaftliche Teilhabe ist das Ziel, und da ist für alle Beteiligten noch Luft nach oben.“, betonte Certa in ihrem Fazit. Geflüchtete müssten mehr in den Fokus rücken. Es sei ratsam, sie als Expert*innen in eigener Sache und Botschafter*innen zu beteiligen. Dazu müssten auch Migrantenselbstorganisationen mehr miteinbezogen werden, da sie einen guten Zugang zu den Menschen hätten und passgenaue Angebote auf die Beine stellen könnten. Oft gingen die schwierigen Lebensbedingungen der Zugewanderten nicht auf individuelle Problemlagen, sondern auf strukturelle Defizite zurück. Wichtig sei es, dass die beteiligten Institutionen und Akteure mehr und besser zusammenarbeiteten, um Regelungslücken zu schließen und gute Lösungen zu finden. Hierzu müsse die Zusammenarbeit auf der örtlichen Ebene verbessert, aber auch die Kooperation der Landes-, der Bundes- und der EU-Ebene eingefordert werden. So könne es gelingen, gemeinsam Ziele zu entwickeln, gute und nachhaltige Lösungen für die drängenden Herausforderungen zu finden und umzusetzen und die Teilhabe der Migrant*innen zu sichern. Überfällig sei ein Einwanderungsgesetzt. Die Inklusion der jüngeren Generation war Certa und ihren Gesprächsteilnehmer*innen ein besonderes Anliegen: „Wir müssen in die Kinder und Jugendlichen investieren, sie sind unsere Zukunft.“

Jaschewski sprach die parallelen Entwicklungen in der Flüchtlingshilfe an. Die Verbände seien insbesondere auf organisatorischer Ebene den Ehrenamtlichen für geraume Zeit hinterhergehinkt. Dies habe bei den Freiwilligen nicht nur zu Frustration und Konflikten mit den Verbänden geführt, sondern auch zur Gründung eigener Vereine und Strukturen. 2015 hätten sich viele Menschen engagiert – auch Menschen, die sonst nicht im Ehrenamt oder der FreiwilligenAgentur tätig gewesen seien. Zwei Jahre lang sei sehr viel Engagement gezeigt worden, dieses sei in der letzten Zeit jedoch rückläufig. Jaschewski ist überzeugt, dass sich die Ehrenamtlichen momentan nur eine Auszeit nehmen, denn kaum jemand führe sein Amt ein Leben lang fort. Dennoch seien Freiwillige auch schwierig und machten, insbesondere den Hauptamtlichen, viel Arbeit. „Ehrenamt ist nicht immer schön, Ehrenamt ist auch anstrengend und frustrierend“, betonte die Leiterin der FreiwilligenAgentur Dortmund. Besonders problematisch sei, dass Abstimmungsprobleme zwischen Ehrenamt, Hauptamt und Verwaltungen nicht ausreichend geregelt seien. Dennoch äußerte sie sich zuversichtlich: Es gäbe Ansätze, um diese zusammenzutragen und in die verschiedenen Zuständigkeiten zu transportieren. Wichtig sei zudem die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis: Für den Erfolg der Arbeit sei es hilfreich, die Situation auch von der Metaebene aus zu betrachten.

Text: Isabel Bezzaoui

Fotos: © Auslandsgesellschaft NRW e.V.