Europa im Gespräch: Prof. Ruth Simsa

Europa im Gespräch: Prof. Ruth Simsa

Drei Kanzler in zwei Monaten – die innenpolitische Lage in Österreich ist auch nach dem vorläufigen Ende der Ära Kurz instabil. Die politische Landschaft des Alpenstaats ist gekennzeichnet von Machtstreben und Manipulation. Wie hat es die FPÖ, trotz Skandalen und zahlreicher Kritik, zu so großem Erfolg geschafft? Und sind tatsächlich autoritäre Tendenzen in der Politik zu erkennen? Die österreichische Wirtschaftswissenschaftlerin und Soziologin Prof. Ruth Simsa hat mit unserer freien Dozentin Cassandra Speer über die Situation in Österreich gesprochen.

CS: Wenn wir von autoritären Tendenzen in Österreich sprechen, wen müssen wir dabei alles berücksichtigen?

RS: Jedenfalls sind die FPÖ und derzeit auch weite Teile der ÖVP zu nennen. Der Begriff „Rechtspopulismus“ wird für fremdenfeindliche Parteien verwendet, die häufig auch extremistische Positionen vertreten. Rechtspopulistische Parteien haben mehrere Merkmale gemeinsam; Der Soziologe Dietmar Loch und der Politikwissenschaftler Cristian Norocel beschreiben sie folgendermaßen „Sie sind nationalistisch und rassistisch, überwiegend islamfeindlich, treten innerhalb der Europäischen Union für nationale Souveränität ein, stellen sich gegen die politischen und gesellschaftlichen Eliten, sie kritisieren die repräsentative Demokratie und fordern –  je nach Opportunität – Plebiszite oder Volksabstimmungen.“ In der Debatte werden die Begriffe „Populismus“ und „Autokratie“ bzw. „Autoritarisierung“ häufig gemeinsam und manchmal sogar synonym verwendet. Besonders problematisch ist der Versuch, gesellschaftliche Institutionen zu destabilisieren.

(…) gutes mediales Auftreten, sehr viel PR-Aufwand, Überschreitung der zulässigen Wahlkampfkosten, mutmaßliche Korruption bzw. gekaufte Berichterstattung.

CS: Wie erklären Sie sich die Erstwahl von Sebastian Kurz zum Kanzler, obgleich man in Österreich keine guten Erfahrungen mit einer ÖVP-FPÖ-Koalition gemacht hatte?

RS: Dieses ist erklärbar durch eine massive Öffentlichkeitsarbeit, wodurch die zulässigen Wahlkampfausgaben stark überschritten wurden; ebenso wie ein gutes Auftreten in (sozialen) Medien. Es war ja nicht von vornherein klar, dass es zu der Koalition mit der FPÖ kommen würde – später als gefälscht enthüllte Umfragen, die sehr präsent in den Medien waren und zur Meinungsbildung beitrugen, beeinflussten die Wähler*innen, ebenso; mutmaßliche Inseratekorruption bzw. gekaufte Berichterstattung in Medien und eine starke Rhetorik gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

CS: Methode Angst, Blendung und Zurückweisung von Verantwortung – warum wurde die ÖVP bei der letzten Nationalratswahl stärkste Kraft?

RS: Wie schon davor, gutes mediales Auftreten, sehr viel PR-Aufwand, Überschreitung der zulässigen Wahlkampfkosten, mutmaßliche Inseratekorruption bzw. gekaufte Berichterstattung.

(…) klare, konsequente Maßnahmen wurden aufgrund von Opportunismus und Parteipolitik hintangestellt (…).

CS: Wie beurteilen Sie den bisherigen Regierungskurs der ÖVP-Grünen-Koalition vor dem Hintergrund, dass sich in dieser Koalition zwei Partner wiederfinden, die von ihrem Programm her nicht unterschiedlicher sein könnten?

RS: Es lässt sich wenig Zusammenspiel feststellen, dieses wurde besonders in der Pandemiebekämpfung deutlich (abgesehen von den ersten Monaten der Pandemie); klare, konsequente Maßnahmen wurden aufgrund von Opportunismus und Parteipolitik hintangestellt; in den letzten Monaten konnten die Grünen allerdings aufgrund der Beschäftigung der ÖVP mit diversen Affären bzw. Klagen mehrere Agenden durchsetzen. Insgesamt ist die Koalition deutlich stärker von Konkurrenz und Ablehnung geprägt als von Kooperation.

CS: Gab oder gibt es noch ein „System Kurz“? Wenn ja, wie gestaltet sich dieses und inwiefern hat es den politischen Diskurs verändert?

RS: Ja, das System Kurz lässt sich durch ein populistisches Freund-/Feind-Schema beschreiben. Das heißt, dass Schlüsselpositionen mit absolut treuen Gefolgsleuten besetzt und eine parteipolitische Günstlingswirtschaft etabliert wurden. Zudem wurde der Fokus auf pure Machtgewinnung statt auf Inhalte gelegt, was sich z.B. bei der Torpedierung von Kinderbetreuung aus Machtstreben zeigt. Ein überhöhtes Marketing, große Versprechen ohne Substanz, die Hintertreibung und Abwertung demokratischer Institutionen, wie z.B. die des Parlaments oder der Justiz, und die Steuerung der Medien durch Inserate und unausgewogene Presseförderung runden das ganze ab und haben einen Einfluss auf den politischen Diskurs und die Meinungsbildung.

CS: Karriere statt Programmatik: Hat die ÖVP noch Überzeugungen oder ist sie so flexibel, dass sie um jeden Preis und mit jedem Partner an der Macht bleiben will?

RS: Das kann ich nicht beurteilen, es deutet gegenwärtig viel auf letzteres hin.

Die Landeshauptleute haben Kurz gewähren lassen und seine Popularität genutzt.

CS: Wie schätzen Sie die Situation innerhalb der ÖVP bei den unterschiedlichen Flügeln ein?

RS: Die Landeshauptleute haben Kurz gewähren lassen und seine Popularität genutzt. Nachdem die Anklagen bzgl. möglicher Korruption und Untreue zu massiven Problemen und letztlich zum Rücktritt geführt hatten, zeigten sie wieder mehr Einfluss, zuletzt im Zuge der Entscheidung für den Lockdown im November und wohl auch in Zusammenhang mit dem Rückzug von Kurz aus der Politik.

CS: Sehen Sie derzeit ein nennenswertes Gegengewicht zur ÖVP von Seiten der Opposition her?

RS: Natürlich gibt es viel öffentliche Kritik von Seiten der Opposition, angesichts der juristischen Probleme, der desaströsen Pandemiebekämpfung und auch zunehmender sozialer Probleme. Es gibt aber immer noch erstaunlich wenig Gegengewicht.

CS: Sebastian Kurz wird gerne als moderner Konservativer in Deutschland glorifiziert. Welche Gefahren sehen Sie in dieser Sichtweise?

RS: Siehe oben. Die Politik der Blendung, der Konzentration auf Marketing ohne inhaltliche Fundierung, die Unterminierung von demokratischen Institutionen, eine Politik der gesellschaftlichen Spaltung und Nichteinhaltung von Gesetzen schwächen Vertrauen in die Politik und die Demokratie nachhaltig, führen zu Destabilisierung und sind letztlich auch für die Wirtschaft von Nachteil.

Die Covid-19 Pandemie und die Maßnahmen der Bundesregierung stellten die Zivilgesellschaft und die CSOs vor viele Herausforderungen und führte bei ihren Akteur*innen zu erheblichen Belastungen. Es bleibt zu hoffen, dass die von der Regierung geplanten Vorhaben aufgenommen werden (…).

CS: Welche Entwicklungen für die Zivilgesellschaft sehen Sie vor dem Hintergrund der derzeitigen Regierungssituation?

RS: Gegenwärtig ist die Situation extrem instabil (drei Kanzler in zwei Monaten), der Ruf nach Neuwahlen wird lauter. Die Pandemieentwicklung lässt viele andere Themen in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund treten und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind auch für die Zivilgesellschaft sehr offen. Die ÖVP-FPÖ Koalition hat die kritische Zivilgesellschaft massiv eingeschränkt. Es gab Diffamierung, Versuche der gezielten Einschüchterung sowie eine zunehmende Delegitimierung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in Medien und von Seiten der Politik und zudem vielfältige Ansätze der Spaltung der Gesellschaft und der Zivilgesellschaft. Den NPOs wurden Profitinteressen unterstellt, ihre Arbeit wurde systematisch abgewertet und eine negative, ausgrenzende Rhetorik auch von höchster Regierungsstelle war beobachtbar. Begriffe wie NGO-Wahnsinn, Asyl-Industrie bauten bewusst ein Feindbild auf. Es gab deutlich weniger politische Partizipation, Politik war intransparenter und die Zivilgesellschaft wurde nicht mehr eingebunden. Finanzierung wurde als Machtmittel eingesetzt, es gab massive Kürzungen öffentlicher Finanzierung für kritische und an Diversität orientierte NGOs. Vor allem in den Bereichen Migration, Kunst, Frauen-, Arbeitsmarkt- und Entwicklungspolitik haben diese zum Teil existenzbedrohende Einschränkungen der öffentlichen Finanzierung erfahren.

Im Zuge der Pandemie bzw. unter der zeitgleichen ÖVP-Grünen Koalition gab es kaum mehr Diffamierung oder Abwertungen. Viele NPOs berichteten, dass sie auch wieder mit ihrer Expertise in Gesetzgebungsprozesse eingebunden waren. Kürzungen der öffentlichen Finanzierung wurden nicht berichtet. Allerdings wurden die in den Jahren 2018/2019 erfolgten Kürzungen kaum zurückgenommen. Ein entscheidender Faktor war der im Juni beschlossene NPO-Notfallfonds in Höhe von 700 Millionen Euro, der wesentlich dazu beigetragen hat, viele der CSOs (Zivilgesellschaftlichen Organisationen) finanziell abzusichern.

Die Covid-19 Pandemie und die Maßnahmen der Bundesregierung stellten die Zivilgesellschaft und die CSOs vor viele Herausforderungen und führte bei ihren Akteur*innen zu erheblichen Belastungen. Es bleibt zu hoffen, dass die von der Regierung geplanten Vorhaben (z. B. Initiativen zur Freiwilligenarbeit im Jahr 2021) aufgenommen werden und Ausgaben für das Auffangen der Nebenwirkungen der Pandemie nicht einem neuen Sparkurs zu Lasten der CSOs geopfert werden. Auch ist in vielen Bereichen der Gesellschaft ein neues Bewusstsein für die Wichtigkeit von Freiheits- und Versammlungsrechten gewachsen. Das kann dazu führen, dass die Wichtigkeit der CSOs in der Zeit nach der Pandemie wieder steigen kann, wenn es gelingt mehr Menschen für ihre Anliegen zu mobilisieren.

CS: Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen!