In Weiß-Rot-Weiß Richtung EU? Die Demokratiebewegung in Belarus (21.10.2021)

In Weiß-Rot-Weiß Richtung EU? Die Demokratiebewegung in Belarus (21.10.2021)

In Europas letzter Diktatur stellt sich seit über einem Jahr die Weiß-Rot-Weiße Demokratiebewegung Europas letztem Diktator Lukaschenko entgegen. Am 21. Oktober sprachen wir mit Polina Gordienko, die mit 15 Jahren von Belarus nach München zog. Dort ist die inzwischen 21-Jährige für die SPD in der Kommunalpolitik tätig. Auf die aktuelle Situation in Belarus macht sie regelmäßig aufmerksam und unterstützt die dortige Bewegung für Demokratie. Die Veranstaltung wurde moderiert von Cassandra Speer, freie Dozentin.

Die Wahl in Belarus

Auf die momentane Situation in Belarus angesprochen, erklärt Polina Gordienko zunächst, dass die Menschen in Belarus bereits an die seit Jahrzehnten gefälschten Wahlen gewöhnt sind. Sie berichtet von Scheinoppositionellen, die gedrängt werden, bei der Wahl anzutreten, um die Wahlen nach außen hin demokratisch erscheinen zu lassen. Es gibt aber auch unabhängige Kandidaten, sowie Sjarhej Zichanouski, der im Mai 2020 festgenommen wurde, sodass seine Ehefrau Swatlana Zichanouskaja statt ihres Mannes bei der Wahl im August 2020 antrat. Gordienko beteuert, sie habe nur antreten dürfen, da ihr keine Gewinnchancen ausgerechnet wurden. Zichanouskaja erhielt aber laut unabhängigen Auszählungen 50 – 82% der Stimmen. Trotzdem erklärte sich Diktator Lukaschenko zum Wahlsieger.

Sind die Proteste in den vergangenen Monaten nochmals angewachsen? Unser Gast erklärt, dass viele Belaruss:innen durch die Corona-Pandemie politisiert wurden, da ihnen das Gefühl vermittelt wurde, wieder nicht als mündige Bürger angesehen zu werden. Obwohl Krankenschwestern von vielen Toten berichteten, gab es im Staatsfernsehen keine Meldungen dazu. Schon am Wahlabend gingen viele Menschen aus allen Altersgruppen und Schichten auf die Straße. Ihnen wurde mit Militär- und Polizeigewalt begegnet. In der Woche darauf kam es zu Gewalt, Massenverhaftungen und Folter. Dadurch wurden die Proteste dezentraler organisiert, um die Festnahmen schwieriger zu machen. Diese Strategie scheint erfolgreich zu sein, da die täglichen Festnahmen seitdem von 2000 Menschen auf 300 bis 500 Menschen sanken. Die Repressalien werden jedoch immer willkürlicher und beziehen sich nicht immer auf Oppositionelle, was Gordienko an dem Beispiel einer Frau, die beim Müll rausbringen verhaftet wurde, verdeutlicht. Sie stellt fest: „Eigentlich ist keiner mehr sicher“. Besonders gefährdet scheinen Menschen zu sein, die mit der belarussischen Sprache arbeiteten, da diese zu einem Zeichen der Demokratiebewegung geworden sei.

Cassandra Speer spricht die Lage von belarussischen Oppositionellen im Ausland an. Gordienko betont, Sicherheit gebe es auch im Ausland nicht, da Lukaschenko unter anderem belarussische Oppositionelle in Litauen von Interpol verhaften ließe. Hier fordert Gordienko, die EU müsse Belarus von Interpol ausschließen, denn die Organisation werde schon seit Jahren von der belarussischen Regierung missbraucht.

Wie kann die EU angemessen reagieren?

Nach weiteren Konsequenzen Europas für die belarussische Regierung gefragt, verlangt Polina Gordienko weitere Sanktionen. Die drei Sanktionspakete, die bis jetzt beschlossen wurden, reichten von schwachen Sanktionen, wie einem Einreiseverbot für bestimmte Personen in Lukaschenkos Umfeld bis hin zu sektionalen Wirtschaftssanktionen. Man könne insbesondere die Sanktionen auf Kaliumchlorid weiter ausbauen, Belarus sei einer der größten Kaliumchlorid-Produzenten der Welt.

Auf Bedenken, man treffe mit diesen Sanktionen auch die Zivilgesellschaft, antwortet unser Gast, die belarussische Regierung nutze die Wirtschaft hauptsächlich für den Militärapparat. Das führt dazu, dass Polizisten und Soldaten hohe Löhne bekommen. Die Planwirtschaft werde mithilfe der staatlichen Preissetzung für die Staatskasse ausgenutzt. Dadurch sei der wirtschaftliche Schaden größer, als der durch Sanktionen entstehende Schaden.

Speer fragt nach Möglichkeiten der Unterstützung für die Proteste in Belarus. Daraufhin warnt Gordienko vor einigen finanziellen Unterstützungsfonds, da das gespendete Geld von der Regierung einbehalten werde. Sie erzählt von Universitäten, die belarussischen Student:innen, welche aufgrund von Protesten exmatrikuliert wurden, einen Platz an ihrer Universität anbieten. Außerdem berichtet sie von der Möglichkeit, belarussischen Gefangenen einen Brief zu schreiben: https://www.lphr.org/postkarten-aktion-politische-gefangene-belarus/

Darüber hinaus gebe es in vielen Städten belarussische Diasporas, die man bei Kundgebungen und Kulturprojekten unterstützen könne. Gordienko erwähnt die unabhängige Botschaft des freien Belarus in Berlin und erwähnt, eine einfache Option wäre, sich weiter über das Land zu informieren.

Die Situation in Osteuropa

Speers nächste Frage zielt auf die Wahrnehmung der belarussischen Situation in Polen und im Baltikum ab. Gordienko betont, die Staaten unterstützten die belarussische Bevölkerung stärker, was auch an einer gemeinsamen Geschichte liege. Sie verweist auf einige geschichtliche Eckpunkte wie die Kiewer Rus und den polnisch-litauischen Staat, um die historische Verbundenheit aufzuzeigen. Unter anderem gibt es an litauischen und polnischen Universitäten Stipendienprogramme für belarussische Student:innen. Außerdem haben Litauen und Polen zusätzliche Sanktionen für Belarus beschlossen.

Auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Russland angesprochen, bestätigt Gordienko Putins zentrale Rolle. Die Angst vor einer militärischen Intervention Russlands sei in Belarus weit verbreitet, da die bereits seit langem bestehende Zusammenarbeit der beiden Regierungen immer wieder vertieft werden. Außerdem traue man Lukanschenko zu, für einen Machterhalt die Souveränität Belarus‘ aufs Spiel zu setzen. Andererseits betont Gordienko kulturelle Verflechtungen und die allgemeine Notwendigkeit von guten Nachbarschaftsbeziehungen, verweist aber auf den schwierigen Dialog mit der russischen Regierung.

Daraufhin erkundigt sich die Moderatorin nach den Geflüchteten, die aktuell durch Belarus nach Europa kommen. Gordienko erklärt zunächst, dass die Anzahl der Flüchtlinge steige: 3000 Menschen kamen seit August an die östlichen EU-Grenzen, im ersten Halbjahr 2021 waren es 28. Gordienko beschuldigt die belarussische Regierung „staatlichen Menschenhandel“ zu betreiben und betont abermals, Wirtschaftssanktionen, die Lukaschenko zum Zurücktreten zwingen, seien die einzige Lösung.  Von der kommenden deutschen Regierung wünscht sich Gordienko eine deutlichere Haltung.

Das Gespräch kommt nochmal auf die Verteilung von Flüchtlingen und Migrationspolitik zurück. Gordienko bestätigt die Vermutung, Lukaschenko habe von Erdoğan gelernt, Uneinigkeit in der EU zu schaffen. Sie hält Abkommen mit Ländern wie Afghanistan für nicht zielführend und unterstreicht erneut die Wichtigkeit von wirtschaftlichen Sanktionen.

Ist ein politischer Umbruch in Sicht?

Die Frage, wann ein Umbruch in Belarus zu erwarten ist, ist schwierig zu beantworten. Unser Gast benennt einige wichtige Faktoren: das Verhalten des Militärs und die innenpolitische Situation in Russland. Es stellt sich allerdings auch die Frage, wie Belarus sich nach einem solchen Umbruch entwickeln würde. Sie verweist auf fehlerhafte Entwicklungen in anderen Ländern, wie zum Beispiel einer zu schnellen Marktliberalisierung.

Speer erkundigt sich daraufhin nach der Stimmung in Belarus hinsichtlich der Europäischen Union. Gordienko spricht von einer grundlegenden Bewunderung für die EU, die zurzeit allerdings enttäuscht werde, da viele Belaruss:innen sich stärkere Reaktionen der EU auf die Situation in ihrem Land wünschen, zum Beispiel durch Sanktionen. Sie betont Belarus benötige außerdem Investitionen in die politische Bildung, da diese in der Bevölkerung nur spärlich vorhanden sei. Ob Deutschland sich mehr mit Belarus und Osteuropa im Allgemeinen beschäftigen sollte? Gordienko stimmt zu; es herrsche viel Unwissen über das Land.

Warum eigentlich in Weiß-Rot Weiß Richtung EU? Gordienko erläutert zum Abschluss, diese Farben ständen für das unabhängige Belarus. Belarus repräsentierte sich bereits während seiner Unabhängigkeit am Anfang des 20. Jahrhunderts mit diesen Farben. Die grün-rote Fahne war die Landesfahne während Belarus an die Sowjetunion angeschlossen war, und steht damit unter anderem für Repressalien unter Stalin. Nach 1991 trug das Land wieder die weiß-rot-weiße Fahne, bevor mit der Wahl Lukaschenkos 1994 die rotgrüne Fahne zurückkam. Weiß-Rot-Weiß stehe für Freiheit, Souveränität, Demokratie und Unabhängigkeit.

 

Text: Luise Blessing