Jeder Mensch – Neue Grundrechte für Europa (07.10.2021)
Bestseller-Autor Ferdinand von Schirach entwickelte in seinem Buch „Jeder Mensch“ sechs neue Grundrechte für alle Europäer:innen. Mit diesen soll die Charta der europäischen Grundrechte erweitert werden. Hierfür wurde die Stiftung JEDER MENSCH e.V. gegründet. Mit ihrem Österreich-Sprecher Manfred Nowak sprachen wir im Rahmen der Europa-Projektwochen am 07.10.2021 über die Bedeutung der geforderten neuen Rechte sowie Möglichkeiten der Umsetzung. Die Moderation übernahm Jutta Reiter, Geschäftsführerin des DGB Dortmund-Hellweg.
Manfred Nowak ist Menschenrechtsanwalt, Sprecher der österreichischen Initiative JEDER MENSCH e.V., ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter, Co-Gründer und Co-Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte und Professor für Menschenrechte an der Universität Wien. Er schaltete sich aus Wien unserem Zoom-Treffen zu, um über von Schirachs Vorschläge zu sprechen.
Die Europäische Grundrechtecharta
Zuerst spricht Manfred Nowak den gescheiterten Verfassungsvertrag der Europäischen Union an, welcher die Charta der europäischen Grundrechte bindend gemacht hätte. Dieser Vertrag hätte die EU unter anderem zu einer Rechtspersönlichkeit erklärt, mehr Mitentscheidungsrechte für das Europäische Parlament geschaffen, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat festgelegt und die rechtsverbindliche Übernahme der Europäischen Grundrechtecharta veranlasst. Er musste jedoch in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Diese Ratifizierung scheiterte in Frankreich und den Niederlanden. An die Stelle des geplanten Verfassungsvertrags trat, im Dezember 2009, der Vertrag von Lissabon, welcher die meisten Neuerungen übernahm, um die EU demokratischer und effizienter zu gestalten. Durch den Lissabonner Vertrag wurde die Europäische Grundrechtecharta in das europäische Primärrecht aufgenommen.
Nowak erklärt anschließend die Unterscheidung zwischen der Charta der europäischen Grundrechte und der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die vom Europarat erarbeitet wurde. Während Europäer:innen aus den Unterzeichnerstaaten der EMRK sich bei einer Verletzung der darin enthaltenen Rechte direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden können, besteht die Möglichkeit, ein europäisches Gericht anzurufen durch die Grundrechtecharta nicht. Die Charta gilt zudem nur in Bereichen, in denen die Mitgliedsstaaten EU-Recht umsetzen. Bei Verstößen können daher Beschwerden bei den nationalen Gerichten eingereicht werden.
Unser Referent betont, dass die Rechte der Charta deswegen umfangreicher ist und mehr soziale und wirtschaftliche Rechte umfasst als die Europäische Menschenrechtskonvention. Dennoch sei die Charta „nicht an die neuen Umstände im 21. Jahrhundert angepasst“.
Sechs neue Rechte für Europa
Worum geht es bei den sechs neuen Grundrechten? Manfred Nowak erklärt, diese ständen „stellvertretend für Schwachstellen in der Europäischen Union“.
Die neuen Rechte umfassen eine gesunde Umwelt, digitale Selbstbestimmung, Schutz vor künstlicher Intelligenz, eine Wahrheitspflicht für Amtsträger:innen, unter Menschenrechtsbestimmungen hergestellte Waren und Dienstleistungen erwerben zu können und das Recht, sich bei einem Verstoß an die Europäischen Gerichte zu wenden (Grundrechtsklage).
Er verdeutlicht, dass Ferdinand von Schirach mit den neuen Rechtsentwürfen eine „Revolution von unten“ anstrebe.
Von unserer Moderatorin nach den Auswirkungen dieser neuen Rechte gefragt, erläutert Nowak den fünften Artikel. Dieser besagt, dass Menschen nur Waren und Dienstleistungen angeboten werden dürfen, die unter menschenwürdigen Verhältnissen produziert werden. Er könnte nach seiner Implementierung für viele Menschen ganz konkrete Verbesserungen ihrer Lebensumstände bewirken. Nowak spricht zudem den Entwurf eines Lieferkettengesetzes der EU an. Selbst wenn ein solches Gesetz beschlossen wird, könnte sich die Situation kaum ändern, denn die Menschen, welche von Menschenrechtsverstoßen in der Lieferkette betroffen sind, haben kaum Möglichkeiten, ein gerichtliches Verfahren an einem europäischen Gericht einzuleiten. Mit dem neuen Grundrecht formuliert Schirach die Regelung daher aus einer Konsument:innenperspektive. So können europäische Verbraucher:innen die Durchsetzung des neuen Rechts einklagen.
Nowak betont, mit diesem Grundrecht würde die „neoliberale Wirtschaftsordnung auf den Kopf (gestellt)“ werden. Durch ein solches Recht würde in der EU eine andere Art von Wirtschaft entstehen müssen. Nowak verdeutlicht, die Union würde sich von einem „Europa der Konzerne“ zu einem „Europa der Menschen“ entwickeln.
Kann Europa sich ändern?
In der zweiten Hälfte der Veranstaltung kommt das Gespräch auf die Frage, ob Europa sich ändern kann. Hier werden Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter und für die LGBTQ-Community angebracht. Manfred Nowak betont, die EU habe im Bereich der Menschenrechte bereits viel erreicht.
Auffällig ist, dass alle neuen Grundrechte von Ferdinand von Schirach simpel und in einfacher Sprache gehalten sind. Nowak erklärt, eine gewisse Einfachheit sei bei Grundrechten notwendig, damit diese auch langfristig angewendet werden können. Durch ihre einfache Formulierung seien die Gesetze vielseitiger anwendbar und könnten auch in den noch unbekannten Zuständen der Zukunft Anwendung finden. Außerdem würden die Gesetzgeber der einzelnen Mitgliedsstaaten ihre nationalen Gesetze weiter ausformulieren, was es für die nationalen Gerichte einfacher machen würde, Klagen zu den neuen Grundrechten zu bearbeiten.
Bei allen Überlegungen zu neuen Grundrechten bleibt natürlich die Frage der Umsetzbarkeit. Wie haben die EU-Institutionen und die europäische Öffentlichkeit bislang reagiert? Das Ziel sei nicht die Umsetzung der neuen Rechte über die Institutionen der Europäischen Union, sondern eine Massenbewegung von EU-Bürger:innen, die die neuen Rechte einfordern, so Nowak. Durch Ferdinand von Schirachs Bekanntheitsgrad in deutschsprachigen Ländern, sei die Initiative bis jetzt vor allem in diesen Ländern erfolgreich. Hier kommt das Gespräch auf die fehlende europäische Medienöffentlichkeit, denn Debatten über Lücken in den europäischen Grundrechten gibt es auch in anderen Mitgliedsstaaten wie Spanien und Griechenland.
In der Diskussion ist man sich schnell einig, dass fehlendes Vertrauen ein großes Problem der aktuellen Europäischen Union ist, die ursprünglich Menschen zusammenführen sollte. Durch den Fokus auf wirtschaftliche Aspekte sei die EU von diesen Grundsätzen abgekommen. Nowak stellt fest, sowohl rechte als auch linke Parteien fühlten sich in der EU momentan nicht mehr aufgehoben und strebten den Austritt an. Er kritisiert die, durch den Neoliberalismus entstandene, ökonomische Ungleichheit und die stärker werdende Ellbogengesellschaft: „Wir sind nicht mehr solidarisch. Die Menschen sind es vielleicht noch, aber die Regierungen sind es nicht mehr.“
„Jeder Mensch“ könnte diese Entwicklung wieder umkehren und ein „Herzensprojekt Europas werden, Menschen verbinden und Gerechtigkeit schaffen“, fasst es Jutta Reiter zusammen.
Auf der Website „Jeder Mensch“ haben bereits über 200.000 Menschen für die Initiative unterschrieben. Wenn genügend Unterschriften zusammenkommen, steigt der Druck auf die jeweiligen Mitgliedsstaaten, sich mit den Forderungen nach neuen europäischen Grundrechten auseinanderzusetzen. Falls 14 EU-Länder sich dann dazu entscheiden, können sie einen Grundrechtekonvent einberufen. Mit diesem gibt es die Möglichkeit, die Grundrechtecharta zu ändern und zu erweitern.
Text: Luise Blessing