Migration und Rechtspopulismus – Herausforderungen für die EU (13.05.2024)
Unkontrollierte Migration in die Europäische Union ist nicht erst in den vergangenen Jahren zentraler Teil der politischen Auseinandersetzung geworden. Wer kommt zu uns? Wie wird unter den EU-Staaten verteilt? Und wie verhindern wir eine humanitäre Katastrophe im Mittelmeer? Auch abseits dieser grundsätzlichen Fragen wird das Thema vor der Europawahl einmal mehr von populistischen Kräften vereinnahmt. Prof. Eckart Stratenschulte, ehemaliger Leiter der Europäischen Akademie Berlin, erklärte uns deshalb am 13. Mai in der VHS Dortmund, warum man Migration immer differenziert betrachten muss und welche neuen Regelungen in der EU in Kraft treten sollen.
Geflüchtet ist nicht gleich geflüchtet: Verschiedene rechtliche Kategorien und ihre Auswirkungen
In der öffentlichen Debatte wird die Migrations- und Flüchtlingspolitik oftmals zu undifferenziert behandelt. Um die rechtliche Situation zu ordnen, stellte Prof. Stratenschulte zunächst fünf Gruppen vor, in die sich zu uns flüchtende Menschen unterteilen lassen. Dabei handelt es sich um Politisch Verfolgte, Flüchtlinge gemäß der Genfer Konvention, Schutzsuchende, Flüchtlinge aus der Ukraine sowie Personen, die unter keine der Kategorien fallen und schlicht ein besseres Leben anstreben. Letztere haben kein Aufenthaltsrecht und sind ausreisepflichtig. Die Durchsetzung dessen könne allerdings durch verschiedene rechtliche Hürden erschwert werden. „Besonders herausfordernd für die Migrationspolitik sind zudem die Politisch Verfolgten“, erklärte der Politikwissenschaftler. Schließlich muss hier jeder einzelne Fall geprüft und eine individuelle politische Verfolgung im Heimatland festgestellt werden.“ Anders verhalte es sich bei den Flüchtlingen aus der Ukraine, bei denen zum ersten Mal die EU-Massenzustromrichtlinie in Kraft trat. „Diese wurde ursprünglich für Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg geschaffen“, so Prof. Stratenschulte. „Die Aufnahme der ankommenden Menschen, auch in den Arbeitsmarkt, ist dadurch erheblich leichter.“
Herausforderung Integration: Eine neue Mittelstadt mitten in Berlin
„Durch Geflüchtete ist Berlin 2023 um eine Mittelstadt gewachsen.“ Mit dieser zunächst verblüffenden Aussage macht Prof. Stratenschulte deutlich, welche große Herausforderungen in der kommunalen Infrastruktur durch Geflüchtete auftreten können. Schließlich können schwerlich innerhalb kürzester Zeit alle nötigen Kapazitäten im ÖPNV, in der Bildung oder in den Ämtern geschaffen werden. Und nicht nur im aktuell angespannten Wohnungsmarkt sorgt die Unterbringung der Geflüchteten für sozialen Sprengstoff. Für alle Länder der EU seien die Herausforderungen deshalb mehr oder weniger gleich, so Prof. Stratenschulte: „Einerseits das Management der Zuwandererströme, andererseits die Rückgewinnung der Diskurshoheit in den jeweiligen Gesellschaften.“
Ein Nachfolger für Dublin? Das neue EU-Asylsystem
Um das Management der Zuwandererströme zu regeln, wurde nach jahrelanger Debatte ein neues Asylsystem für die Europäische Union beschlossen. Dadurch sollen die Lasten gleichmäßiger verteilt werden, nachdem jahrelang die Staaten an den EU-Außengrenzen die ankommenden Menschen komplett selbst aufnehmen sollten – ein System, das spätestens mit dem Anwachsen der Flüchtlingsströme ab 2015 zum Scheitern verurteilt war. „Eine wichtige Neuerung der Reform ist zudem das obligatorische Grenzverfahren“, erläutert Prof. Stratenschulte. Ziel sei ist es, an den Außengrenzen der EU eine schnelle Einschätzung zu treffen, ob Anträge unbegründet oder unzulässig sind. Bis dies allerdings in der Praxis funktioniere, sei es noch ein langer Weg, prognostiziert der langjährige Dozent für politische Wissenschaft an der FU Berlin. Zunächst haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Vorhaben der EU in die Praxis umzusetzen.
Nährboden für Rechtspopulismus: Zu einfache Antworten in der politischen Debatte
Das neue Asylpaket wird damit sicherlich keine großen Auswirkungen auf die politische Entwicklung vor der anstehenden Europawahl nehmen. Migration erweist sich seit Jahren als Nährboden für rechtspopulistische und nationalistische Parteien sowie Bewegungen. So auch in den aktuellen Debatten. „Im Allgemeinen bleibt das Narrativ der Populisten stets gleich“, meint Prof. Stratenschulte: „Wir sind die Opfer und müssen uns wehren.“ Flüchtlinge werden zur Wurzel allen Übels stilisiert, indem man ihnen eine bewusste Einwanderung in unsere Sozialsysteme vorwirft und vor der drohenden Überfremdung warnt. Das schürt Ängste innerhalb der Bevölkerung – und die Populisten verstehen davon zu profitieren. Hierbei sei entscheidend, den Menschen das Gefühl zu geben, ihnen würde etwas weggenommen werden. Populistische Parteien würden nämlich nicht von dem Teil der Bevölkerung gewählt, der sich am unteren Ende der sozialen Skala befindet, sondern von Menschen, die die Angst haben, dorthin abzurutschen, erklärt der Professor der Politikwissenschaft. So sei bei der Wahl populistischer Parteien nicht die eigene soziale oder wirtschaftliche Lage der Treiber, sondern die Angst vor Status- und Identitätsverlust.
Offene Kommunikation sorgt für Vertrauen
Was kann gegen eine solche Entwicklung getan werden? Man müsse die Probleme anpacken, sie beim Namen nennen und die Bevölkerung in den Lösungsprozess miteinbeziehen, so Prof. Stratenschulte: „Die Menschen müssen wieder an Vertrauen und Zuversicht gewinnen. Dies lässt sich nur durch eine offene und durchdachte Kommunikation der Lösungen in der Migrationsfrage oder in anderen Krisen erreichen.“ So ließe sich die Diskurhoheit in den jeweiligen Gesellschaften zurückgewinnen und den Populisten den Wind aus den Segeln nehmen.