2019_02_05 Pflicht zur Integration? Pflicht zur Hilfe vor Ort?

Pflicht zur Integration? Pflicht zur Hilfe vor Ort? (05.02.2019)

Bedroht die wachsende Diversität die Solidarität oder entsteht Solidarität erst durch Diversität? Die Meinungen zum angemessenen Umgang mit Geflüchteten gehen in Deutschland und Europa weit auseinander. Im Streitgespräch zwischen Professor Dr. Reinhard Merkel, Domkapitular Dr. Thomas Witt und Dr. Andreas Fisch, Leiter der Fachbereiche Wirtschaftsethik und Kirchliche Dienstgeber der Kommende Dortmund, und dem teilnehmenden Publikum kam es am Dienstag dem 5. Februar 2019 in der Kommende Dortmund zu spannenden Diskussionen zu den Themen Integrationspflicht, Fluchtursachen und Nächstenliebe.

Anstoß zur Veranstaltung gab ein Artikel in der F.A.Z. („Wir können allen helfen“, 22.11.2017, S.9) von Dr. Merkel, Professor emeritus für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, der von den anwesenden Dr. Witt und Dr. Fisch in einem gemeinsamen Aufsatz („Beides muss sein: Not verhindern und lindern“, in: Herder Korrespondenz 2/2018, S. 22-25) kritisiert wurde. Daraufhin beschloss man, in einem offenen Gespräch die Themen beider Schriftstücke gemeinsam zu besprechen und zu diskutieren.

Zu Beginn legte Merkel seine Position in einem kurzen Vortrag dar. Über die ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015 und den dadurch entstandenen Rechten und Pflichten der Zuwander*innen und der aufnehmenden Gesellschaft in Europa schlug er zunächst den Bogen zu den allgemeinen ethischen Pflichten des Menschen. Hier unterstrich er die allgemeine Hilfspflicht des Menschen, aber auch dessen begrenzte Zumutbarkeit. Die Erde sei allerdings die Schöpfung der Menschen und dadurch entstehe die Gemeinbesetzung aller Menschen an jedem Platz und die Pflicht der globalen Gerechtigkeit. Somit habe jeder Staat die Pflicht, Migrant*innen bei sich aufzunehmen.
Einen Unterschied sieht Merkel allerdings zwischen den verschiedenen Gruppierungen an Geflüchteten. Die Pflicht zur Aufnahme bestünde nur gegenüber politischen Geflüchteten, wie Kriegs- und Bürgerkriegsgeflüchteten, also jenen, die in ihrem Heimatland nicht mehr sicher leben können. Das Problem sei aktuell die begrenzte Zeit, Energie und die fehlenden Mittel sowie die Kollision der Pflichten der Aufnahmestaaten. Die moralische Problematik sei laut Merkel die, dass im Land der Zuwander*innen das Geld, welches hier in die Flüchtlingshilfe gesteckt werde, 10-Fach so viel wert wäre und das Geld bei der Hilfe vor Ort fehle.
Letztendlich tönte aus Merkels Vortrag folgender Tenor heraus: Die Schwelle der Zumutbarkeit der aufnehmenden Staaten sei erreicht. Dies allerdings nicht nur durch finanzielle Mittel, sondern auch durch die Kollision zwischen Religion und Gesellschaft und verschiedener Kulturen und dadurch entstehenden Konflikte wie zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Trennung zwischen Staat und Religion, Achtung des Antisemitismus oder Formen freier sexueller Selbstbestimmung.

„Es liegt kein Plan vor, keiner hat gerufen.“

Witt antwortete als erster auf Merkels Ausführungen. Auf die Verteilung der finanziellen Mittel erwiderte Witt mit dem Beispiel des barmherzigen Samariters: „Die Not begegnet mir in meiner Nähe und ich helfe meinem Nächsten.“ Dass das Geld woanders mehr wert wäre, sei wohl eine mögliche Frage, würde aber nichts nützen, so Witt, denn die Menschen und damit unsere Aufgabe seien ja bereits da. Wichtig war Witt hier, dass es keinen vorhergesehen Plan gebe und niemand die Geflüchteten gerufen habe. Die Leistungsgrenze sah Witt im Gegensatz zu Merkel noch nicht als erreicht und erkannte auch viele andere Stellen, an denen man sparen könne, welche nicht die Flüchtlingshilfe und Integrationsarbeit seien. Die ebenfalls von Merkel angesprochene Ungerechtigkeit der Verteilung des globalen Reichtums sei laut Witt nur lösbar, indem wir in der nördlichen Hemisphäre anfangen, zu teilen und etwas von unserem Wohlstand aufgeben. Unser Hilfspotential sei also noch lange nicht erschöpft. Letztendlich könne man mit der Botschaft zum Teilen keine Wahlen gewinnen, so Witt, und auch die Durchsetzbarkeit sei fraglich, allerdings wäre diese Vorgehensweise gerecht, wenn auch unbequem, für uns Europäer*innen.

2019_02_05 Pflicht zur Integration? Pflicht zur Hilfe vor Ort?

Leiter der Fachbereiche Wirtschaftsethik und Kirchliche Dienstgeber der Kommende Dortmund, Dr. Andreas Fisch

„Die Hungersnot geht an uns vorbei.“

Abschließend meldete sich Fisch zu Wort. Ihm ging es hauptsächlich um das Thema der Fluchtursachenbekämpfung und um die Migrationsforschung. Fakt sei, dass die ärmsten Geflüchteten überhaupt gar nicht erst bei uns ankommen würden und, dass der Großteil der Geflüchteten entgegen einiger Auffassungen immer noch aus Kriegsregionen kommen würde. Darum sollte der Fokus darauf liegen, Fluchtursachen einzudämmen und durch Krisenprävention die globale Hilfspflicht besser umzusetzen. Gleichzeitig verurteilte Fisch die Aufrechterhaltung des Islam als Drohkulisse und kritisierte die unzulängliche Berichterstattung über Kriegs- und Krisengebiete.

Praktische Umsetzung?

In der nachfolgenden Diskussion wurde das Gehörte divers vom zahlreich erschienenen Publikum erörtert. Viele Fragen nach der Praxis wurden laut, in denen die Experten gebeten wurden, zu erklären, wie ein Pflichtenkatalog des Aufnahmelandes explizit aussehen würde und wie eine Krisenprävention angegangen werden könnte. Hier fiel es den Vortragenden schwer, konkrete Beispiele, die im Alltag umzusetzen sind, zu nennen. Auch die Frage der Zumutung und die Verteilung des globalen Reichtums war erneut Thema, wobei sich das Publikum gegen die Ungerechtigkeit aussprach und dennoch reflektiert einsah, dass es als privilegierte Bevölkerung schwer sei, auf Vorteile und Wohlstand zu verzichten. Zusammenfassend war es ein sehr aufschlussreicher Abend in der Kommende Dortmund, an dem erneut sichtbar wurde, dass es wichtig ist, die Meinungen und Argumente anderer anzuhören und auch im Streitgespräch aufeinander zuzugehen.

Die Veranstaltung wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. in Kooperation mit dem Sozialinstitut Kommende Dortmund, der IHK zu Dortmund und der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Regionalbüro Westfalen organisiert.

Text: Anita Lehrke, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Anita Lehrke, Auslandsgesellschaft.de e.V.