2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl (05.09.2019)

Es geht ein Gespenst in Europa um – das Gespenst des Rechtspopulismus. Was sich vor der Europawahl bereits in den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten abzeichnete, ist mit dem Wahlergebnis Realität geworden: Rechtspopulistische Parteien gewinnen überall in Europa an Einfluss, doch wie darauf reagieren? Welche Konsequenzen hat dies für die Europäische(n) Demokratie(n)? Rechtspopulismus ist in aller Munde, doch was verstehen wir überhaupt darunter? Deswegen galt es, dieses schemenhafte ‚Gespenst‘ bei der Auftaktveranstaltung der Europa-Projektwochen 2019 am Donnerstag, den 05.09.2019, gemeinsam mit der Journalistin Ulrike Christl, MdEP Prof. Dr. Dietmar Köster und der Soziologin Prof. em. Dr. Karin Priester zu diskutieren, um es greifbarer zu machen. Moderiert wurde die Fish-Bowl-Diskussion von der DGB-Vorsitzenden Jutta Reiter aus Dortmund.

Reiter eröffnete den Abend mit einer kritischen Einschätzung der politischen Lage in Europa und hob noch einmal die Relevanz des Themas in Bezug zu den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hervor: „Wieder einmal ein Thema, das direkt am Puls der Zeit ist, denn wie schnell sich die Grenzen des Sagbaren und Vorstellbaren verschieben, das haben wir in den letzten Monaten in Deutschland erlebt.“ Auch wenn es durchaus gravierende Meinungsunterschiede innerhalb der Diskussionsrunde gab, wie dem Rechtspopulismus in Europa zu begegnen sei, waren sie sich alle einer Sache einig: Europas liberale Demokratien sind durch den erstarkenden Rechtpopulismus gefährdet. Auch wenn rechtspopulistische Parteien bei der Europawahl bei weitem nicht so gut abgeschnitten haben, wie befürchtet, sei die Gefahr, die von ihnen ausginge, noch lange nicht gebannt, so Köster, der als Europaabgeordneter direkte Einblicke aus dem Europaparlament mit den Besucher*innen der Veranstaltung teilte.

2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Jutta Reiter vom DGB Dortmund-Hellweg führte gekonnt durch den Abend und die Diskussion. (Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl, 05.09.2019)

Rechtspopulismus? Ein „flüssiges“ Konzept

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der Expert*innen versuchte sich die Soziologin Dr. Karin Priester an einer Bestimmung des Begriffs ‚Rechtspopulismus‘, der aufgrund seiner Omnipräsenz im populären Diskurs und seinem Gebrauch in der Wissenschaft kaum zu definieren sei. Man solle nicht inflationär mit ihm umgehen, denn auch wenn der Rechtspopulismus uns Angst mache, wies die Soziologin darauf hin: „Populismus ist nicht gleichzusetzen mit Faschismus“. Dr. Priester schrieb den rechtspopulistischen Parteien in Europa eine Funktion als „Scharnierparteien“ zu, demzufolge seien sie auch eine Reaktion auf die „Mitte“ der Gesellschaft. Parteien, wie die AfD in Deutschland oder die Lega Nord in Italien, seien „Scharnierparteien zwischen dem Mainstream, der sich immer weiter verengt hat hin zur Mitte.“ So zumindest die Einschätzung der emeritierten Soziologin. Eine durchaus kontroverse These, auf die Jutta Reiter weiter einzugehen versuchte. Daraufhin erläuterte Priester: „Das Scharnier heißt, dass die Parteien versuchen, eine Verbindung herzustellen zu den noch tolerierbaren parlamentarischen Kräften.“ Ein „Vorbild“ für alle rechtspopulistischen Kräfte sei damit vor allem Viktor Orbán in Ungarn, der an der Realisierung einer „illiberalen Demokratie“ arbeite.

2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Dr. Karin Priester gab zu Beginn wichtigen Input zur Begriffsdefinition. (Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl, 05.09.2019)

Ulrike Christl, die sich für die Presseschau euroItopics täglich durch alle Medienlandschaften der Europäischen Union arbeitet, warf ein, dass Rechtspopulismus in Europa immer wieder in Wellen auftrete. So seien die größten Ausschläge in den Medien vor fünf Jahren zu beobachten gewesen, als immer mehr Geflüchtete Europa erreichten. Die Journalistin mahnte aber auch zur Differenzierung, da es durchaus große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gebe und darin, wie stark rechtpopulistische Kräfte vertreten seien. Es gäbe Länder, in denen sie die Regierung stellen (Polen, Ungarn), Länder, in denen sie sich an der Regierung beteiligten (Österreich bis „Ibiza“), solche, wo eine Regierung durch Rechtspopulist*innen toleriert werde (Dänemark) oder gar Länder, in denen sie überhaupt keine nennenswerten Erfolge feiern (Irland und Portugal). Vorsichtige Kritik übte Christl daran, dass die Europawahl 2019 schon im Vorfeld so stark zur Schicksalswahl stilisiert wurde: „In den Medienbetrieben herrschte die Meinung, dies wird die letzte Europawahl sein.“

2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Ulrike Christl näherte sich dem Themenkomplex Rechtspopulismus vor allem durch die Repräsentation des Phänomens in einer sich ändernden europäischen Medienlandschaft. (Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl, 05.09.2019)

Hierauf schaltete sich Dr. Köster in die Diskussion ein: „Die Befürchtung vor der Wahl war, dass die Rechtspopulist*innen die Gesetzgebung im Europäischen Parlament blockieren könnten.“ Dies sei nach der Wahl nicht der Fall gewesen. Insgesamt beobachte Köster dennoch eine Renationalisierung der europäischen Politik, ganz egal ob im Europäischen Rat oder im Europäischen Parlament, auch Deutschland sei davon nicht auszuschließen. Als Beispiel dafür nannte er den deutschen Unwillen, die Dublin-Regulierungen zu reformieren. Gründe für das Erstarken rechtpopulistischer Kräfte sah der Europaabgeordnete vor allem in der Verunsicherung der Mittelschichten, die eine grundlegende Sorge vor der Zukunft antreibe. Mit Verweis auf den polnischen Historiker Zygmunt Bauman und dessen Buch Retrotopia stellte er fest, dass „der Nationalstaat keine Antwort auf die neoliberale Weltgesellschaft“ geben könne.

Europa: Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Auf die von Jutta Reiter eingangs gestellte Frage, warum rechtspopulistische Parteien in ganz Europa immer mehr an Bedeutung gewinnen, gab es durchaus unterschiedliche Erklärungsansätze. Auch wenn dies nicht Thema des Abends sein sollte, versuchte sich Dr. Priester immer wieder an neuen Erklärungsmodellen und verwies auf eine Mischung aus sozialen und ökonomischen Gründen. Teilweise durchaus sehr schlüssige Erklärungsansätze der Soziologin, jedoch ließen sie sich nur schwer in einer Fish-Bowl-Diskussion erörtern. Das kurze Abdriften vom Thema nutzte einer der Teilnehmer und setzte sich prompt auf den leeren Stuhl der Vierer-Runde. Denn das besondere am Format der Fish-Bowl Diskussion ist, dass es einen freien Stuhl bietet, auf den die im Kreis um die Expert*innen sitzenden Teilnehmer*innen Platz nehmen können, um sich mit ihren Fragen und Redebeiträgen in die Diskussion einzuklinken. Der Teilnehmer begann: „Ich habe zwei positive Vorurteile gegenüber dem Europaparlament: Erstens gibt es keinen Fraktionszwang und zweitens macht das Parlament immer wieder gute Vorschläge, hat aber meines Erachtens zu wenig zu sagen.“ Wasser auf die Mühlen eines Dietmar Köster, der als einziger in der Runde auch im Europaparlament arbeitet. Doch damit war noch keine Frage gestellt. Der Diskutant wollte vielmehr zu bedenken geben, das es wenig bringe, sich im Europaparlament oder im Bundestag über die AfD zu empören, wenn zeitgleich das Sterben im Mittelmeer weitergehe. Vielmehr müssten doch gerade die Europaabgeordneten, die keine Rechtspopulist*innen seien, handeln. Wie zu erwarten, verwies Dr. Köster auf die fehlenden Handlungskompetenzen der EU in diesem Bereich. Zudem müsse erst eine gerechte Verteilungslösung von den Mitgliedstaaten gefunden und befürwortet werden, bevor man ins Gespräch kommen könne.

2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Lange blieb der Stuhl in der Mitte der Runde nicht frei. (Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl, 05.09.2019)

Langsam nahm die Diskussion an Intensität zu und immer mehr Teilnehmer*innen trauten sich, auf dem ‚heißen Stuhl‘ der Diskussionsrunde Platz zu nehmen. Als weiterer Streitpunkt zeichnete sich schnell die Frage ab, inwiefern Europa überhaupt eine Antwort auf den erstarkenden Rechtspopulismus sein könne. Eine Teilnehmerin stellte deshalb die Überlegung in den Raum, ob die EU „uns“ nicht mehr schützen müsste, vor „der Globalisierung“ und dem „Finanzradikalismus“, da diese Phänomene der Moderne stark zur Polarisierung der öffentlichen Meinung beitragen und damit den Zuspruch für Rechtspopulist*innen stärken würden. Dr. Köster war der Ansicht, es müsse darum gehen, genau diese Menschen davon zu überzeugen, dass Europa ein Projekt der Hoffnung sei, denn „es gibt in der Europäischen Kommission eine größere Bereitschaft für Solidarität als allgemein angenommen wird“. Um diese grundlegende Idee der Solidarität weiter auszubauen, müsse Europa zu einer wirklichen Sozialunion werden, da sich die Lebensstandards zwischen den Mitgliedstaaten aktuell noch zu sehr unterscheiden würden. Christl warf ein, dass es vielleicht ein bisschen zu viel verlangt sei, zu erwarten, dass Europa all diese Probleme lösen müsse, um eine Daseinsberechtigung zu haben. Sie verwies auf ein aktuelles Beispiel: „Die Politik der großen Gesten, wie Macron es versucht hat, funktioniert nicht.“ Dr. Priester schloss die Frage an, worauf Europa am Ende hinauslaufen solle, was das Ziel sei und machte damit ein ganz neues Thema auf. Die EU und gerade die Wahl der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stehen ihrer Ansicht nach emblematisch für ein Europa der Hinterzimmer-Politik. Ereignisse wie diese förderten den Rechtspopulismus. Überhaupt machte die Soziologin vor allem die „kulturellen Eliten“ für die Krise der EU verantwortlich.

2019_09_05 Auftakt Europa-Projektwochen

Dr. Dietmar Köster verwies immer wieder darauf, dass man trotz aller Probleme, die Europa und die EU haben, nicht in einen Nationalismus aus dem 19. Jahrhundert zurückfallen dürfe. (Rechtpopulismus als neue politische Normalität? Das Europäische Parlament nach der Wahl, 05.09.2019)

Am Ende ging es den Besucher*innen vielmehr um die Grundsatzfragen der europäischen Integration. Warum brauchen „wir“ Europa? Wofür „braucht“ Europa uns? Kann Europa neo-nationalistische Tendenzen eingrenzen oder bietet sie ihnen eine weitere Bühne? Viele dieser Fragen gingen weit über das hinaus, was an einem Abend diskutiert werden konnte. Sie berührten das, was Europa tief im Innersten zusammenhält. Wie sehr das Thema Rechtspopulismus die Teilnehmenden bewegte, macht deutlich, wie notwendig die Diskussion an diesem Abend war. Dr. Köster fasste die Diskussion abschließend noch einmal gut zusammen: Auch wenn die Vereinigten Staaten von Europa aktuell mehr wie eine weit entfernte Zukunftsmusik klingen, sei Europa eine Notwendigkeit für liberale Demokratien und offene Gesellschaften, denn diese würden in einer globalisierten Welt nicht nur von innen bedroht, sondern eben auch von außen. Mit Verweis auf die erzwungene Sommerpause des britischen Parlaments durch Boris Johnson fügte er an: „Es ist das schlimmste, Nationalisten gewähren zu lassen. Das sehen wir gerade am Brexit.“ Ähnlich sah es Christl, die vor allem den Gedanken Europas als hoffnungsvolles Zukunftsprojekt verteidigte. Unter Verweis auf Donald Trump und dessen nationalistisch motivierten Ausstieg vom Pariser Klimaabkommen stellte sie fest: „Probleme wie den Klimawandel werden wir durch nationale Abschottung und nationalistische Alleingänge nicht lösen.“ Auch wenn Europa sicher nicht die Antwort auf alle Fragen ist, so klingen Hoffnung und Zukunft bei weitem besser als Angst und ein vielen rechtspopulistischen Parteien zugrunde liegendes Politikverständnis aus dem 19. Jahrhundert.

Die Veranstaltung war Teil der Europa-Projektwochen 2019 und wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. mit Unterstützung des DGB Dortmund-Hellweg, der Stadt Dortmund und dem AK gegen Rechtsextremismus organisiert. Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen für die freundliche Förderung des Projekts.

Text von: Lorenz Blumenthaler, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Lena Borgstedt, Auslandsgesellschaft.de e.V.