Planspiel “SOS Europa. Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU” (04.03.2020)
Das Thema der europäischen Flüchtlingspolitik ist gerade heute aktueller denn je. Bilder und Videos von den Geschehnissen an der Grenze Griechenlands gehen in den sozialen Medien um und die ganze Welt blickt auf die EU. Welche Handlungsmöglichkeiten hat Europa angesichts dessen und wie wird ein Vorgehen beschlossen? In einem Planspiel der Landeszentrale für politische Bildung NRW in Zusammenarbeit mit dem Europe Direct Dortmund am 04.03.2020 hatten rund 30 Schüler*innen der Werner-von-Siemens-Gesamtschule Unna die Möglichkeit, das praxisnah herauszufinden. Die Schüler*innen schlüpften in die Rolle von Mitgliedern des Europäischen Rates und diskutierten über eine mögliche Lösung für die gegenwärtige Problematik.
Ziel der Simulation war es, den Jugendlichen nahezubringen, wie das Thema Flüchtlingspolitik in zentralen EU-Gremien behandelt wird und gleichzeitig ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie Beschlüsse im Sondergipfel des Europäischen Rates gefasst werden.
Dafür fand zunächst eine inhaltliche Einführungsphase mit den Teamer*innen der Landeszentrale statt, in der die Schüler*innen mit dem Thema und auch mit relevanten Begriffen und Institutionen vertraut gemacht wurden, so wie der Genfer Konvention, FRONTEX und dem Dublin-System.
Anschließend begaben sich die Jugendlichen zurück in das Jahr 2018 und schlüpften in die Rollen der damaligen Regierungschef*innen beziehungsweise Innenminister*innen der EU-Mitgliedsstaaten, der Ratspräsident*in und Kommissionspräsident*in, die den Vorstand in der Diskussion innehatten, sowie dreier Pressevertreter*innen. Während der Sitzung wurde per Beamer ein Presseticker mit kontroversen Schlagzeilen an die Wand geworfen, welcher die Diskussion regelmäßig anheizte.
Eine gesamteuropäische Lösung?
Ausgangspunkt des Planspiels war eine fiktive Drohung Italiens, aus der europäischen Staatengemeinschaft auszutreten, sollte keine zufriedenstellende und gesamteuropäische Lösung für die Situation an der südlichen Grenze der EU gefunden werden. Dort drängten sich Geflüchtete und Asylsuchende. Daraufhin veröffentlichte die Europäische Kommission einen Vorschlag mit möglichen Regelungen. Über diese galt es im Gipfel abzustimmen.
Zentrale Elemente dieses Vorschlags waren eine Aufteilung von Geflüchteten unter den Staaten mithilfe einer festgesetzten Quote, die Berücksichtigung von Sprachkenntnissen bei der Verteilung, die Schaffung eines gemeinsamen EU-Flüchtlingsfonds, die freiwillige Beteiligung an den Resettlement-Programmen der UNHCR, die Einrichtung von Auffanglagern, die umfassende finanzielle Ausstattung von FRONTEX und die verstärkte Bekämpfung von Fluchtursachen.
Nach einer kurzen Einarbeitung in ihre Rollen und Positionen wurden die frisch ernannten Politiker*innen in ihre erste Sitzung geschickt: Eröffnet wurde diese von der Ratspräsidentin und der Kommissionspräsidentin, woraufhin jede*r Landesvertreter*in ein kurzes Statement mit der jeweiligen Position abgab. Dabei zeigte sich, dass die Jugendlichen direkt in ihre neue Rolle hineinzuschlüpfen vermochten und die Positionierung des ihnen zugewiesenen Staates auf die Situation anwenden konnten. So baten Spanien, Griechenland, Malta und Italien die übrigen EU-Staaten um Hilfe, da sie sich angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen überfordert fühlten. Sie pochten auf eine neue Regelung, die es auch wirtschaftlich stärkeren Staaten vorschreibe, einen gewissen Prozentsatz Geflüchteter aufzunehmen. Dänemark hingegen äußerte sich kritisch gegenüber einer Quote: „[Aber] es geht uns nicht darum, Menschen in Not nicht zu helfen“. Währenddessen stichelte der Presse-Live-Ticker die Vertreter*innen schon gegeneinander auf.
Bevor die offene Debatte im Plenum begann, bekamen die Pressevertreter*innen zudem die Gelegenheit, die bisherigen Statements direkt zu hinterfragen und auch Ländervertreter*innen persönlich anzusprechen. Unter anderem erwähnten sie die „menschenunwürdigen Verhältnisse“, in denen viele Geflüchtete in Lagern lebten. „Viele von Ihnen scheinen sich der Verantwortung zu entziehen“, so ein Pressesprecher. „Wie kam der Dublin-Vertrag überhaupt zustande, wenn er keinen Nutzen mit sich bringt?“
„Sie haben nicht verstanden, wie ernst die Lage ist!“
In der Debatte nahmen die Regierungsvertreter*innen direkt Stellung dazu. Die griechische Vertreterin meinte: „Wir geben zu, dass es [in den Lagern] keine guten Bedingungen sind. Das liegt aber nicht an uns.“ Viele Geflüchtete würden wieder nach Südeuropa zurückgewiesen. Die Situation sei aufgrund von Griechenlands geografischer Lage so problematisch. Daraufhin konterte Portugal: „Jedes Land muss selbst die Entscheidung treffen, ob es Lager aufbaut. Dadurch trifft [es] dann aber auch die Entscheidung, den Menschen Schutz zu geben.“
Scharf diskutiert wurde zudem der Vorschlag einer Quotenregelung zur Verteilung Geflüchteter. Insbesondere osteuropäische Länder beharrten auf einer freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten und rückten auch von ihrer Position nicht ab. So meinte die finnische Vertreterin, ihr Land würde Abschiebungen in Betracht ziehen, wenn ihnen durch die Quote „zu viele“ Geflüchtete zugewiesen würden. Da griff die Ratspräsidentin ein: „Sie haben nicht verstanden, wie ernst die Lage ist! Ich [persönlich] glaube nicht, dass uns jetzt [eine Aufnahme auf] freilwillige[r] Basis noch was bringt.“
Einigkeit herrschte auf dem Gipfel aber in anderen Gebieten. So sprachen sich alle Länder wiederholt für eine Stärkung der Grenzschutzagentur FRONTEX und die Errichtung von Auffanglagern in Nordafrika aus.
Dies spiegelte sich in der abschließenden Abstimmung über den Kommissionsvorschlag wider. Die Quotenregelung wurde als einziges Element abgelehnt, während alle anderen einstimmig oder mit einigen Enthaltungen angenommen wurden.
Nach einer abschließenden Pressekonferenz, in der einzelne Vertreter*innen erneut die Möglichkeit bekamen, ihre Positionen zu erklären oder eventuelle Unklarheiten zu beseitigen, begann die Auswertungsphase des Planspiels unter Leitung der Teamer*innen. Die Schüler*innen traten aus ihren Rollen heraus und sollten zunächst ein emotionales Feedback geben. Dafür wurden „Emoji-Karten“ verwendet, anhand derer die Jugendlichen beschrieben, wie sie sich während und unmittelbar nach der Simulation fühlten. Sie erklärten, dass es positiv war, ein solches Thema in einer angenehmen Atmosphäre zu bearbeiten und es nicht zu ernst wurde. Gleichzeitig bezogen sich einige auch auf die Gefühlslage der Geflüchteten selbst: „Es ist komisch, dass wir über Flüchtlinge reden, und man sich selten klar ist, was die eigentlich durchmachen.“
Danach wurde das Planspiel inhaltlich ausgewertet. Alle Schüler*innen waren der Meinung, sich viel neues Wissen über das Thema und auch über die EU-Staaten angeeignet zu haben. Über politische Entscheidungsfindung – und „warum alles so funktioniert, wie es funktioniert“ – wüssten sie nun deutlich mehr.
Insgesamt war das Feedback auch anhand der Arbeitsweise und dem Verhalten der Jugendlichen zu erkennen. Sie bewiesen, dass sie ihre eigenen Positionen von denen, die sie annehmen mussten, trennen konnten, und zeigten trotzdem Feingefühl für das Thema sowie die Fähigkeit, das Erlernte auf die gesellschaftliche Realität anzuwenden – und umgekehrt.
„Was für uns das Wichtigste sein sollte“, so die Ratspräsidentin in der Diskussionsrunde, „ist, dass alle Flüchtlinge sicher ankommen. Deswegen müssen wir gerade jetzt zusammenhalten und gerade jetzt dafür kämpfen, dass wir für sie eine sichere Unterkunft schaffen.“
Die Veranstaltung wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. mit der Landeszentrale für politische Bildung NRW organisiert.
Text von: Julia Warias, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Julia Warias, Auslandsgesellschaft.de e.V.