Wie demokratisch ist eigentlich noch die „Mutter der Demokratie“? (20.01.2021)

Wie demokratisch ist eigentlich noch die „Mutter der Demokratie“? (20.01.2021)

Geoffrey Tranter ist Brite und lebt seit über 40 Jahren in Deutschland. Am 20. Januar hat er in einer Online-Veranstaltung der Auslandsgesellschaft e.V., der Deutsch-Britischen Gesellschaft und des Europe Direct Dortmund über die Entwicklungen der Demokratie im Vereinigten Königreich der letzten fünfzig Jahre ein persönliches Fazit gezogen.

In seinem Vortrag klärt Geoffrey Tranter über den Begriff „demokratisch“ auf, blickt auf 700 Jahre britische Demokratie zurück und geht auf den heutigen Zustand der britischen Demokratie ein.

Was bedeutet eigentlich „demokratisch“?

Grundsätzlich kann diese Frage nur jede und jeder für sich selbst und individuell beantworten. Genauso wie das Demokratieverständnis ist auch die Demokratieinterpretation von Mensch zu Mensch, von Staat zu Staat, unterschiedlich. Herr Tranter unterstreicht die wichtigsten Merkmale einer Demokratie: Verfassungs- und Gesetzestreue, Meinungs- und Pressefreiheit und freie Wahlen.

Rückblick auf die britische Demokratie

Im Vergleich zu allen anderen Staaten der Welt hat das Vereinigte Königreich keine niedergeschriebene Verfassung, sondern eine Ansammlung von Dokumenten, die diese ersetzen. Die wichtigste Quelle des britischen Verfassungsrechts ist die Magna Charta, die Große Urkunde der Freiheit, unterschrieben im Jahr 1215 von König John. In der Magna Charta taucht auch das erste Mal das Wort „Parlament“ auf. Im Jahr 1689 folgte die Bill of Rights, die eine Stärkung des Parlaments gegenüber den Monarchen festsetzte. Die Bezeichnung „Mutter der Demokratie“ für das Vereinigte Königreich ist etwas irreführend, da das Original-Zitat des britischen Politikers John Bright „England ist he mother of parliaments – England ist die Mutter der Parlamente“ lautet, erklärt Tranter. 1707 wurde mit dem Act of Union die Vereinigung von England und Schottland beschlossen. Die letzten Dokumente, die zu dieser Ansammlung gehören, wurden alle im letzten Jahrhundert beschlossen: der Parliament Act (1911) und der European Communities Act (1972). Erst 2011 wurde mir dem Fixed-term Parliaments Act eine feste Legislaturperiode beschlossen. Vorher konnte die Regierung im Unterhaus selbst einen Termin für die Wahl bestimmen und sich so einen günstigen Zeitpunkt aussuchen. Nun wird alle fünf Jahre gewählt.

Nach dieser Erläuterung zur britischen Verfassung berichtet Geoffrey Tranter vom Bergarbeiterstreik 1984/85, der den Höhepunkt des Konflikts zwischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem Vorsitzenden der Bergbaugewerkschaft Arthur Scargill darstellt. In früheren Streiks konnten sich die Bergbauleute auch wegen rigider Maßnahmen, wie dem Besetzen von Elektrizitätswerken, mit ihren Forderungen durchsetzen. „Wir konnten die Milch für unsere Tochter nicht immer erwärmen, weil der Streik sich auch auf die Elektrizitätswerke ausgewirkt hat“, erzählt Tranter. Als er auf dem Weg zum Flughafen auf der Autobahn von der Polizei angehalten wurde, stellte er sich das erste Mal die Frage, ob man sich die Spielregeln der Demokratie so hinbiegen kann, bis sie einem passen. Denn: Auf den Autobahnen sollte die Polizei sog. „Fliegende Streikposten“ aufhalten und umleiten.

Das Demokratieverständnis der Britinnen und Briten

Das Mehrheitswahlsystem, das im Vereinigten Königreich gilt, sorgt für absolute Mehrheiten, obwohl nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht wurde. So entsteht eine Diskrepanz zwischen abgegeben Stimmen und dem endgültigen Ergebnis. Das Hauptargument für dieses Wahlsystem ist, dass es eine starke Regierung ermöglicht; im Gegensatz zu Deutschland hat das Vereinigte Königreich erst eine Regierungskoalition (2010) erlebt. Ein Referendum, um das Wahlsystem zu ändern, wurde von den Wahlberechtigten abgelehnt. Geoffrey Tranter erklärt, dass es in den 650 Wahlbezirken nur etwa 50 „Swing States“ gibt und 14 Millionen Britinnen und Briten seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Parteiwechsel in ihrem Wahlbezirk mehr erlebt haben. Das liegt auch daran, dass bei der Wahl des Unterhauses (House of Commons) das Prinzip First Past The Post (FPTP) angewandt wird: Alle Stimmen bis auf die der Gewinnerin bzw. des Gewinners verfallen. Zudem kritisiert der Brite die niedrige Wahlbeteiligung: „Die Demokratische Mitwirkung der Bürger lässt zu Wünschen übrig“. Auch die Regelungen zur Brexit-Wahl, bei der 2,2 Millionen Britinnen und Briten, die in anderen EU-Ländern leben, nicht abstimmen durften und die Wahl Johnsons zum Premierminister, bei der lediglich die Mitglieder der Konservativen Partei abstimmen durften, bezeichnet er als undemokratisch. Premier Johnson baut seit seiner Wahl das Oberhaus (House of Lords) aus und hat bereits 60 Lords neu ernannt, außerdem sammelt er sich hörige Leute im Parlament. Auch Johnsons Pläne, eine Ausweispflicht bei Wahlen einzuführen, sieht Tranter kritisch, da vor allem Wählerinnen und Wähler der Konservativen Partei einen Ausweis besitzen und somit Andere von der Wahl abgehalten werden könnten. Im Vergleich zu Deutschland haben die meisten nur einen Führerschein, um sich auszuweisen. Trotzdem äußert sich Tranter hoffnungsvoll: „Der Brexit kann dazu geführt haben, dass das politische Bewusstsein der Briten aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist“.

Die Medienlandschaft im Vereinigten Königreich

Vor allem die Zeitungen berichten wesentlich einseitiger als in anderen Ländern. Das liegt vor allem daran, erklärt Tranter, dass viele Zeitungen der Boulevardpresse reichen Männern gehören, die die Konservative Partei mit Geldern unterstützen. Viele Menschen informieren sich ausschließlich über die Boulevardpresse und/oder das Internet über politisches Geschehen. Die BBC, der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Vereinigten Königreich, steht zunehmend unter dem Druck der Konservativen Partei, die wegen vermeintlich voreingenommener Berichterstattung über den Brexit und dessen Folgen die Gebühren entziehen will, aus denen die BBC sich finanziert. Geoffrey Tranter befürchtet, dass die Entwicklung der Konservativen Partei weiter Richtung Populismus driftet und hofft, dass das Kontra durch die Zeitung Guardian und kritische Berichterstattung in Sendungen der BBC nicht durch die Regierung verhindert wird.

Text: Lea Mindermann