Zeitenwende durch Ukraine-Krieg: Eine neue europäische Verteidigungspolitik? (09.05.2022)
Der Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in vielerlei Hinsicht. Auch, wie Bundeskanzler Scholz in seiner Rede vor dem Bundestag betonte, für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Welche Strukturen dafür in der Europäischen Union neu geschaffen werden müssen, und welchen Beitrag Deutschland in einer EU-weiten Verteidigungsarchitektur leisten könnte, besprachen wir mit Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis in einer Videokonferenz am Europatag, dem 09. Mai. Prof. Gareis arbeitet im NATO Hauptquartier, Abteilung Operationen in Brüssel, lehrt am Institut für Politikwissenschaften in Münster und ist Verfasser des Grundlagenwerkes „Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik“. Dr. Kai Pfundheller, Leiter des Instituts für Politische Bildung der Auslandsgesellschaft.de moderierte die Veranstaltung.
Abstrakte Bedrohungen wurden Realität
„Olaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochen, das müssen wir in den gesellschaftlichen Diskurs bringen“, betonte Dr. Pfundheller zu Beginn der Veranstaltung. „Die europäische Friedensordnung wurde auf den Kopf gestellt. Bedrohungen sind nun brutale Realität geworden“.
Auch für Prof. Gareis hat sich die globale Sicherheitsordnung langfristig verändert: „Russlands Überfall zeigt, dass diplomatische Mittel allein nicht mehr reichen, sondern dass Demokratien auch wehrhaft sein müssen.“ In diesem Sinne plädiert er für ein Übergehen zu mehr europäischer Integration in Verteidigungsfragen und einer „engen Zusammenarbeit in der Rüstungsfrage“. Natürlich müsse man versuchen die Situation mit so viel Diplomatie wie möglich zu verbessern, aber sich auch auf den „eingetretenen Worst-Case als Dauerzustand“ einstellen.
Deutschland als „Motor der europäischen Verteidigungspolitik“
Jetzt seien die EU-Mitgliedstaaten gefordert. Vor allem Deutschland solle eine Schlüsselrolle in der gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik übernehmen. „Das wäre ein Ausdruck der Solidarität gegenüber Partnern, wie zum Beispiel der Ukraine, Moldau oder Georgien und würde einen entscheidenden Beitrag zur Resilienz der Europäischen Union leisten“, so der Politikwissenschaftler. Ergänzend sei es wichtig die transatlantischen Beziehungen und das NATO- Bündnis zu stärken, dass trotz einer vermehrt integrierten europäischen Verteidigungspolitik weiterhin der vorrangige Akteur bleiben werde. Für Prof. Gareis steht fest: „Wir müssen mit einer einheitlichen Politik den Bedrohungen entgegentreten.“
Bundeswehr-Reformen dringend notwendig
Wie kann ein politischer Kurswechsel von dem Grundsatz „Wandel durch Handel“ zu mehr gemeinsamer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit einem militärisch souverän aufgestellten Deutschland gelingen? Dafür bedarf es für unseren Gast einer „wirklich einsatzbereiten Bundeswehr“ mit einem raschen Beschaffungswesen, einer „geringeren Führungsdichte“ und erhöhter militärischer Effektivität durch gezielte Investitionen in Material und Struktur.
Das Fazit unserer Diskussion mit Prof. Gareis an diesem leider nicht mehr friedvollen Europatag im Jahr 2022 fiel klar aus: Zur zukünftigen Verteidigung unserer europäischen, freiheitlich-demokratischen Werte ist neben Diplomatie auch ein gemeinsames europäisches Verteidigungskonstrukt, in dem Deutschland mit einer reformierten Bundeswehr eine Schlüsselrolle einnehmen könnte, notwendig.