Zukunftswerkstatt Europa am Anne-Frank-Gymnasium Werne (09.07.2019)
Auch wenn die Europawahl erst einmal vorbei ist, bleibt das Interesse von Jugendlichen an Europa groß. Am Dienstag, den 9. Juni 2019, waren wir deshalb am Anne-Frank-Gymnasium in Werne, um gemeinsam mit den Schüler_innen die Ergebnisse der Europawahl zu diskutieren und Vorstellungen, Ideen und Wünsche für die Zukunft der EU zu formulieren. Natürlich hatten die Schüler_innen hierbei auch die Möglichkeit, ihr Wissen aufzubessern, um die Funktionsweisen, Institutionen und Prozesse der EU besser zu verstehen. Nach einer kurzen Workshop-Phase, in der die Teilnehmer_innen selbstbestimmt und demokratisch ihre drängendsten Fragen erarbeiteten, konnten die Jugendlichen im Expertengespräch mit Martin Mödder, stv. Büroleiter des EuropaPunkt Bonn, genau die Fragen stellen, welche ihnen zur EU am heißesten unter den Fingernägeln brannten.
Zu Beginn der Veranstaltung gab es ein kurzes Warm-Up, in dem es darum ging, was die Schüler_innen mit der EU und Europa verbinden. Als Assoziationen wurden vor allem der gemeinsame Binnenmarkt, aber auch Europa als Friedensprojekt genannt. Hier stellte sich bereits für viele Schüler_innen die Frage: Wenn Europa ein Friedensprojekt sei, „warum werden dann von den Ländern in der EU Waffen exportiert?“ Eine durchaus berechtigte Frage, die erst im weiteren Verlauf des Workshops von Martin Mödder beantwortet wurde. Eines konnte man den Jugendlichen jedoch gewiss nicht unterstellen: Dass sie nicht an europäischer Politik interessiert seien.
Im Warm-Up ging es aber auch um die Frage, wo Europa uns im Alltag begegnet, wie die Jugendlichen zur EU stehen und ob sie sich als Europäer_innen bezeichnen würden. Auch hier fielen die Antworten sehr divers aus: Für die einen sei Europa vor allem die „Institutionen im fernen Brüssel“, für die anderen ein großes Konglomerat aus verschiedenen Möglichkeiten, das von der gemeinsamen Währung bis zum problemlosen Reisen reiche. Auf eines konnten sich aber doch fast alle Jugendlichen einigen: Dass Europa eine wichtige und nicht zu unterschätzende Rolle in unserem Alltag spiele.
Der lange Marsch durch die Institutionen
Apropos Institutionen: Wie war das nochmal genau mit dem Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union? Gar nicht so einfach. Um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, hatte jede_r Teilnehmer_in zu Beginn der Veranstaltung ein Namenschild mit einer der vier wichtigsten Institutionen der EU (Europäischer Rat, Europäische Kommission, Europaparlament und Rat der Europäischen Union) zugewiesen bekommen. In gemeinsamer Gruppenarbeit fanden sich nun die Regierungschef_innen, Kommissar_innen, Parlamentarier_innen und Minister_innen zusammen, um die wichtigsten Merkmale ‚ihrer‘ jeweiligen Institution zu erarbeiten: Woraus setzen sie sich zusammen, wie werden sie gewählt und demokratisch legitimiert und vor allem: Welche Handlungskompetenzen besitzen sie im institutionellen Gefüge der EU? Die Ergebnisse der Gruppenarbeit präsentierten die Schüler_innen anschließend im Plenum – komplett ohne Fehler, denn sie hatten den langen Marsch durch die Institutionen mit Bravour gemeistert.
Nun, da das Wissen um die politische Verfasstheit aufgefrischt war, beschäftigten wir uns mit der Situation im Europaparlament nach der Europawahl. Natürlich war auch eine Auseinandersetzung mit Ursula von der Leyen, die wenige Tage zuvor vom Europäischen Rat als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen worden war, vorprogrammiert. So ganz verstanden es die Jugendlichen nicht, warum eine Person, die zuvor nicht zur Wahl Stand, jetzt einen solch wichtigen Posten erhalten sollte. Wer kann es ihnen verdenken? Überraschend war es dennoch, wie gut informiert die Teilnehmer_innen über das aktuelle Geschehen waren, auch wenn die meisten an der Europawahl noch nicht aktiv teilnehmen durften. Die Kritik der Schüler_innen richtete sich dabei jedoch weniger an die Persona von der Leyen, sondern vielmehr daran, dass sie es sich nur schwerlich vorstellen konnten, dass sich durch sie klimapolitisch in Zukunft auf EU-Ebene genug bewege.
Europa: auch ein Projekt der Widersprüche
In der zweiten Phase der Zukunftswerkstatt ging es um die konkreten Vorstellungen der Jugendlichen. Die Teamer_innen wollten wissen, welche Meinung die Jugendlichen über die EU haben: „Was ist gut an ihr, was läuft gut? Was ist schlecht und verbesserungswürdig? Und welche konkreten Verbesserungsvorschläge habt ihr?“ Man war sich schnell einig, dass gerade die europäischen Werte sowie die gemeinsame Zusammenarbeit verschiedener Staaten sehr positiv zu bewerten sind. Doch auch dabei taten sich für die Jugendlichen immer wieder Widersprüche auf, beispielsweise in Bezug auf die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Eine Schülerin stellte sich die Frage, inwiefern das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei denn überhaupt mit den ansonsten für sich proklamierten Europäischen Werten vereinbar sei. „Das nimmt der EU die Kredibilität!“, kommentierte sie. Auch in Bezug auf Staaten innerhalb der EU, wie Polen und Ungarn, gab es hinsichtlich der Themen Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte deutliche Kritik zu vernehmen: „Warum gibt es in einer Gemeinschaft von Werten Länder, die gegen diese Werte verstoßen?“ Häufig wurde gerade in Bezug auf eher kritische Themen bemängelt, dass es der EU an Handlungsperspektiven und einer klaren Linie fehle. Warum dies häufig nach außen so scheint, sollte später im Expertengespräch mit Martin Mödder klar werden.
Trotz all der Vorteile, die die EU für die Jugendlichen bietet, waren sich die Schüler_innen gerade im Kontext der Europawahl einig, dass man nicht in einen kompletten „EU-Hype“ verfallen dürfe: „Die EU ist nicht gut um der EU Willen, sondern aufgrund dessen was sie tut.“ Besonders faszinierend zu sehen war, dass die Debatten beinahe differenzierter geführt wurden, als bei ähnlichen Diskussionsformaten mit Erwachsenen. Politikverdrossenheit Fehlanzeige. Vielmehr wurde die EU aufgrund ihres Potentials, globale Lösungen außerhalb nationalstaatlicher Engstirnigkeit zu versprechen, von den Jugendlichen sehr geschätzt und damit auch umso leidenschaftlicher kritisiert. Angelehnt an diese Kritikpunkte überlegten sich die Schüler_innen Verbesserungsvorschläge und formulierten ihre persönlichen Fragen und Wünsche an die EU. Konsens bestand darin, mehr Partizipationsmöglichkeiten für Jugendliche zu schaffen und eine klarere Informationspolitik für die EU zu realisieren.
Mit der leidenschaftlichen Debatte war eine sehr gute Basis für das anschließende Expertengespräch mit Martin Mödder geschaffen. Die wichtigsten Punkte der Debatte wurden deshalb von den Teamer_innen gesammelt und geclustert. Bevor es für die Jugendlichen in die Mittagspause ging, konnten sie anhand dessen darüber abstimmen, welche Themen sie in das Expertengespräch mitnehmen wollten. Am Ende entschieden sich die Teilnehmer_innen für vier übergeordnete Themenkomplexe: „Klimapolitik“, „Jugend in Europa“, „Soziale Gerechtigkeit“ sowie „Werte und Menschenrechte in der EU“. Anschließend wurden in Kleingruppen, in denen sich die Jugendlichen selbstorganisiert zusammenfanden, Fragen zu den vier Bereichen erarbeitet und diskutiert, währende die Teamer_innen nur beratend zur Seite standen.
Europa? So kompliziert und doch so einfach!
Nun war es auch schon Zeit für den Special Guest der Zukunftswerkstatt. Über eineinhalb Stunden durften die Schüler_innen Martin Mödder, stv. Büroleiter des EuropaPunkt Bonn, in aller Ruhe ausquetschen und die Fragen stellen, die zuvor in Kleingruppen erarbeitet wurden.
In Sachen Klimapolitik stimmte Martin den Jugendlichen in großen Teilen zu: Die EU müsse einfach mehr tun, doch das sei en Detail nicht so einfach. Unter anderem seien mit dem Pariser Klimaabkommen bereits große Erfolge erzielt worden. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, zum Beispiel in der Energieversorgung, ist es jedoch manchmal sehr kompliziert, zu für alle zufriedenstellenden Ergebnissen zu kommen. Nationale Interessen machten es schwierig, in der CO2-Reduktion verbindliche Mindestziele für die EU zu formulieren. Dies gelte besonders für Länder wie Frankreich, das stark auf Atomenergie angewiesen sei, oder für Polen, das einen Großteil des nationalen Energiebedarfs durch Braunkohle decke. Diese unterschiedlichen Interessen und Vorrausetzungen müssten gerade in der Klimapolitik immer gegeneinander abgewogen und ausbalanciert werden, um zu einem zufriedenstellenden Kompromiss zu kommen. Eine Antwort, die die Schüler_innen nur teilweise zufrieden stellte. Dennoch schaffte es Martin, bei den Teilnehmer_innen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Europapolitik eben vor allem das Suchen nach Kompromissen ist. Europapolitik ist, wie der Urvater der Politikwissenschaft Max Weber es bezeichnet hätte, dann doch das starke und langsame „Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Häufig liege das Problem im Erreichen einstimmiger Mehrheiten im Europäischen Rat, in dem unsere Staats- und Regierungschefs sitzen, auch wenn dort eine qualifizierte Mehrheit ausreichen würde, um aktiv zu werden, so Martin Mödder. Diese Konstellation führe außerdem häufig dazu, dass eine klare Linie, wie zum Beispiel gegen Rechtsverstöße innerhalb der EU, schwer durchzusetzen sei, da ein einfaches Veto bereits ausreiche um ein Rechtsstaatsverfahren gegen Länder wie Polen oder Ungarn zu blockieren.
Eine besonders spannende Diskussion entspann sich auf die Frage: „Wie kann die soziale Gerechtigkeit innerhalb der EU zwischen den Ländern abgebaut werden und was tut die EU bisher dafür?“ Martin verwies dabei auf das selbst für Akademiker_innen manchmal sehr komplex erscheinende Feld der EU-Kohäsionspolitik und Erfolge in der europaweiten Reduktion von Arbeitslosigkeit und der Anerkennung von Abschlüssen. In Bezug auf den Export von Waffen aus der Europäischen Union stellte Martin Mödder klar, dass es sich dabei um keine dezidierte EU-Kompetenz handle. Auch wenn er die Einwände der Schüler_innen persönlich verstehen könne, sei dies Angelegenheit der Nationalstaaten, die zum Schutze nationaler Rüstungsindustrien in diesem Bereich jegliche Kompetenzerweiterung der EU blockieren.
Etwas persönlicher wurde es, als die Jugendlichen wissen wollten, was Martin eigentlich für Europa begeistere. Er erzählte dabei vor allem von seiner eigenen Biographie und seinem Studium in Maastricht, wo er beim Joggen alleine drei Grenzen innerhalb einer Stunde überschritt. Die Erfahrung, dass ihm das während des Laufens nicht einmal bewusst war, da es keinerlei Barrieren oder Grenzen für ihn gab. Abschließend hob er auch noch einmal unter Rückgriff auf die biographische Erfahrung seiner Großeltern die Bedeutung Europas als Friedensprojekt hervor. Ein Argument, das wir, auch wenn es abgedroschen klinge, nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten.
Die Zeit verging wie im Flug. Am Ende stellte Martin die Möglichkeiten vor, wie sich die Jugendlichen in Europa einbringen könnten. Gerade Initiativen wie das Europäische Solidaritätskorps, das Europäische Bürgerbegehren oder Erasmus+ bieten unheimlich viele Chancen für begeisterte junge Europäer_innen. Ein Argument, das nach der langen Diskussionsrunde auch die letzten Skeptiker_innen überzeugte.
Ein Schüler formulierte seine Erfahrungen in der abschließenden Feedbackrunde wie folgt: „Vorher war ich der EU gegenüber mehr negativ eingestellt, was oft unbegründet war, jetzt kann ich meine Kritik besser formulieren.“ Letztendlich soll es genau darum in der Zukunftswerkstatt gehen: Über die EU zu lernen, um sich eine fundierte Meinung bilden zu können. Martin Mödder kam dabei als Experte bei den Schüler_innen besonders gut an, gerade da er niemanden durch Sonntagsreden überzeugen wollte. Auch die Teilnehmer_innen merkten das: „Ich fand es sehr gut, dass die Fragen neutral beantwortet wurden.“ und fühlten sich deshalb ernst genommen.
Die Veranstaltung wurde vom Europe Direct Dortmund in der Auslandsgesellschaft.de e.V. gemeinsam mit dem JEF NRW e.V. organisiert.
Text von: Lorenz Blumenthaler, Auslandsgesellschaft.de e.V.
Fotos: © Lorenz Blumenthaler, Auslandsgesellschaft.de e.V.