Zuwanderung in die EU: Wie kann eine europäische Migrationspolitik aussehen?
Nicht zuletzt seit den größeren Fluchtbewegungen in die EU seit 2015 wird in Europa intensiv über Migration und Flüchtlingspolitik diskutiert. Das Thema führt regelmäßig zu politischer Spaltung innerhalb der Union. Die jüngste Eskalation: Mitgliedsstaat Litauen hat begonnen, einen Zaun an der Grenze zu Belarus zu errichten, um illegale Migration zu stoppen. Dieser soll bis 2022 fertig sein und mehrere Millionen Euro kosten. Auch Lettland baut bereits einen Zaun an der belarussischen Grenze. Die Regierungen der beiden Länder werfen dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko vor, gezielt Migranten an ihre Grenzen zu bringen. Dies sei eine Reaktion auf die verschärften Sanktionen. Auch an der polnisch-belarussischen Grenze kommt es zu Gewalt und verbotenen Push-backs. Was kann die Europäische Union in Zukunft tun, um Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden und eine humanitäre Migrationspolitik zu gewährleisten?
Wie sieht es mit der europäischen Gesetzeslage zum Thema Asyl und Migration aus?
Die wohl wichtigste Gesetzesgrundlage für das europäische Asylrecht ist das Dublin-Übereinkommen. Diese Verordnung, welche im Jahr 1997 in Kraft trat, regelte die Zuständigkeiten europäischer Mitgliedsstaaten von Asylanträgen. Seit 2014 gilt die aktuelle Dublin-Verordnung. Das Gesetz ist notwendig, da es durch das Schengen-Abkommen keine Grenzkontrollen zwischen den Ländern der Europäischen Union gibt. Mithilfe der Verordnung wird dafür gesorgt, dass Asylbewerber nur in einem EU-Land einen Asylantrag stellen, und zwar in dem Land, in das sie zuerst eingereist sind.
Im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ wurde die Dublin-Verordnung stark kritisiert, da viele EU-Länder die ungerechte Lastenverteilung bemängeln, die das Abkommen auslöst. So müssen die Länder am äußeren Rand der EU, laut der Dublin-Verordnung, die Asylanträge der Flüchtlinge, die in ihr Land kommen, alle selbst bearbeiten und dürfen sie nicht an andere EU-Länder überstellen. Dieses Verfahren steht im Gegensatz zu dem Vorhaben der Europäischen Union, solidarisch zu handeln.
Die EU einigte sich im Zuge der Flüchtlingskrise, Flüchtlinge aus den außenliegenden Ländern der EU in andere Länder umzusiedeln, um die Anstrengungen gerechter zu verteilen. Dies wurde allerdings nur mangelhaft umgesetzt. 2017 warteten 16.000 anerkannte Asylbewerber in Griechenland auf eine Weitereise, aber viele europäische Länder hielten sich nicht an die Vereinbarung und ließen keine weiteren Flüchtlinge ins Land. Viele Flüchtlinge wurden nach Griechenland zurückgeschickt.
Aber warum wurde ein solches Abkommen überhaupt geschaffen?
In den Jahren, in denen das Dublin-Abkommen beschlossen wurde, war die politische Situation eine andere als heute. Europa rechnete zu der Zeit vor allem mit Asylanträgen aus den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts. Man nahm nicht an, dass illegale Einreisen einen großen Anteil der Migration stellen würden. Außerdem wurde keine ungerechte Verteilung von Asylbewerbern erwartet, da man annahm. die meisten solcher Asylbewerber würden, aufgrund der langen Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei, im wirtschaftsstarken Deutschland landen.
Heutzutage versuchen die meisten Asylbewerber jedoch über die südlichen Länder der EU einzureisen. Da viele dieser Länder zurzeit in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, stellen die Dublin-Regeln für viele südliche EU-Mitgliedsstaaten eine unlösbare Aufgabe dar. Länder, die im Norden Europas liegen oder keine EU-Außengrenze haben, müssten so kaum mit Flüchtlingen rechnen.
Darüber hinaus gibt es mit diesem System Probleme mit den Rechtsstandards der EU. Denn durch die verschiedenen Länder kommt es unter den jetzigen Regelungen zu unterschiedlichen Behandlungen von Asylbewerbern und unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, einen positiven Asylbescheid zu erhalten. Dies führt zu dem Umstand, dass Asylbewerber in die Länder reisen, in denen sie die höchsten Chancen haben.
Wie kann Europa dieses Problem angehen?
Mittlerweile gab es einige Ideen zur Überarbeitung und Veränderung der im Dublin-Abkommen festgelegten Regeln: Die alleinige Verantwortung des erst erreichten EU-Landes für die Flüchtlinge könnte abgeschafft werden. Stattdessen sollen Asylbewerber mit Familienangehörigen in einem EU-Land, dorthin überstellt werden. Haben sie keine Familie in Europa, sollen die Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Hier gibt es den Vorschlag, Ländern, die sich gegen diese Regelung stellen, EU-Gelder zu kürzen. Darüber hinaus hat das europäische Parlament vorgeschlagen, alle Asylbewerber mit Fingerabdrücken zu registrieren und abzugleichen. Außerdem sollen minderjährige Flüchtlinge besser geschützt werden und Familienzusammenführungen schneller ablaufen.
All diese Vorschläge stehen bereits seit Ende 2017 im Raum, aber durch Uneinigkeit unter den Mitgliedsstaaten, kann das europäische Parlament die Verhandlungen nicht aufnehmen.
Ende September 2020 legte die EU-Kommission ihre Vorschlänge zur Reformierung der Asyl- und Migrationspolitik vor. Dieses neue Migrations- und Asylpaket umfasst unter anderem ein gemeinsames Außengrenzenmanagement, faire Asylvorschriften, ein Rückführungskonzept, welches von der EU koordiniert wird, Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern und die Förderung legaler Wege für Asylsuchende.
Konkret soll beschlossen werden, die Vorüberprüfungen zu verstärken. Im Gegensatz zu vorangegangenen Entscheidungen soll es im neuen Asylpakt keine verpflichtenden Umverteilungen nach Quoten mehr geben. Stattdessen will die EU ihre Mitgliedsstaaten finanziell für jeden aufgenommenen Flüchtling entlohnen. Für mögliche Krisensituationen soll ein Mechanismus für verpflichtende Solidarität ausgelöst werden können. Sollte ein solcher Antrag von der EU-Kommission bestätigt werden, sind die anderen EU-Länder zu Hilfeleistungen verpflichtet. Diese Hilfeleistungen müssen nicht zwangsweise mit der Aufnahme von Flüchtlingen einhergehen, sondern können auch durch finanzielle Unterstützung oder Hilfe bei der Rückführung abgelehnter Flüchtlinge erfolgen. An den Dublin-Regeln möchte die EU im Allgemeinen festhalten, allerdings sollen die Möglichkeiten, in die Verantwortlichkeit eines anderen EU-Landes zu fallen, als das, in das ein Asylbewerber zuerst eingereist ist, wachsen. Künftig soll zum Beispiel auch ein vorheriger legaler Aufenthalt in einem EU-Land, dieses als Hauptverantwortlichen ausmachen.
Einziges, jedoch großes Manko: Der Vorschlag wird von vielen EU-Staaten nicht unterstützt. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, räumte bereits im Mai ein, die Fortschritte liefen nur schleppend.
Ob sich diese Regelungen in allen EU-Ländern durchsetzen lassen ist deswegen fraglich. In viele europäischen Ländern gibt es bereits gesetzliche Maßnahmen gegen Asylsuchende, die von der EU kritisch gesehen werden. Dänemark kündigte im Juni 2021 ein neues Gesetz an, welches es dem dänischen Staat erlauben soll, Asylbewerber in Drittländern unterzubringen. Viele andere EU-Länder haben bereits Zäune an ihren Grenzen gebaut, unter anderem Österreich, Ungarn, Griechenland und Norwegen. Obwohl die EU die Quotenregelung mit einer Solidaritätsverpflichtung ersetzt hat, und sich so auch Unterstützung von migrationskritischen Regierungen erhofft hat, reagierten die betroffenen Regierungen abgeneigt auf den Vorschlag. Ungarns Ministerpräsident Orban kritisiert gar kategorisch, das neue Gesetz „würde Migration steuern und nicht verhindern“.
Allerdings kommt Kritik auch von Experten und NGOs aus anderen Richtungen. Kritiker werfen der EU vor, das neue Paket strebe vor allem Abwehr und Abschottung an.
Margaritis Schinas, der Vizepräsident der Europäischen Kommission betont, das Gesetz sei im Interesse aller Mitte-rechts und Mitte-links Parteien. Kritik an dem neuen Migrationspakt komme vor allem von den europafeindlichen rechten und linken Parteien. Ein Lichtblick: Schinas hofft auf eine Einigung auf das Migrationspaket nach den französischen Wahlen im Frühjahr 2022. Für die Situation an den östlichen Grenzen zu Belarus sollte jedoch bestenfalls schon vorher eine Lösung gefunden werden, die nicht aus neuen Zäunen und Push-backs besteht.
Text: Luise Blessing