Die Präsidentschaftswahl in der Türkei und ihr Weg nach Europa (19.06.2023)
War die Türkei noch vor 20 Jahren ein sicherer Kandidat auf eine Mitgliedschaft in der EU, hat sich das Land seitdem stetig von Europa entfernt. EU-Beitrittsverhandlungen liegen längst auf Eis. Hinzu kommt seit einiger Zeit eine Wirtschaftskrise mit Inflation, die die Kaufkraft der Bürger auffrisst und viel Unzufriedenheit verursacht. Dennoch konnte der Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu am 28. Mai für sich entscheiden. Am 19. Juni haben wir mit der Türkei-Expertin Dr. Lale Akgün, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestags und Rasim Marz, Historiker und Publizist für die Türkei und das Osmanische Reich, über die Folgen der Präsidentschaftswahlen sowie die Zukunft der türkischen Außenpolitik und der EU-Türkei-Beziehungen diskutiert. Moderiert wurde die Veranstaltung von Jochen Leyhe.
Von Beginn an schlechte Chancen für die Opposition?
Auf die Frage, was der Wahlkampf und schließlich der Sieg Erdoğans und seiner AKP bei ihnen ausgelöst habe, reagieren Frau Akgün und Herr Marz unterschiedlich. Frau Dr. Akgün ist nach dem Wahlsieg sehr erschüttert gewesen. Schließlich sei die Lage in der Türkei unter Erdoğan ohnehin verheerend: Abbau von Menschenrechten, weniger Gewaltenteilung, keine freie Justiz, ein entmachtetes Parlament und Medien, die Verfolgung von Minderheiten, zehntausende politische Gefangenen, eine Inflation bei 80 % und eine niedrige Armutsgrenze – „Wie konnte dieser Mann unter diesen Umständen wiedergewählt werden?“, so Akgün.
Historiker Rasim Marz hingegen war weniger überrascht. Aus historischer Perspektive sei ein Machtwechsel nicht zu erwarten gewesen, außerdem habe die Opposition unter Kılıçdaroğlu strategische Fehler gemacht. Mit Kılıçdaroğlu und seinen Unterstützern, den Bürgermeistern von Ankara Mansur Yavaş und von Istanbul Ekrem İmamoğlu, beide von der CHP, sei dies eine Dreierkonstellation mit viel Präsenzwahlkampf gewesen. Dennoch habe es innerhalb der Opposition viele Kritiker zu der Kandidatenwahl Kılıçdaroğlus gegeben, vielleicht hätte eine jüngere, charismatischere Person mehr Erfolg gehabt. Letztendlich sind sich jedoch beide einig, dass Erdoğans fester Griff um Medien und Justiz eine Propagandapolitik möglich mache, die den Wahlsieg entschieden habe.
Ein gespaltenes Volk, ein religiöser Wahlkampf und Erdoğans Verbindungen ins Ausland
In der Diskussionsrunde kommt bald auch die Frage nach der Religion und ihrer Rolle im Wahlkampf und der Spaltung der türkischen Gesellschaft – auch im Ausland – zur Sprache. Der Islam spiele seit einigen Jahrzehnten wieder eine große Rolle in der türkischen Politik, so unsere Experten. Erdoğan stelle sich in die Position des Beschützers des Islams und nutze diese auch vertieft in seinem Wahlkampf. Insofern spiele die Religion eine bedeutende Rolle in der Spaltung der Gesellschaft in einen eher säkularisierten, westlich geprägten Bereich in Großstädten und einen traditionalen und religiösen Teil auf dem Land, waren sich Marz und Akgün einig. Die ländliche Bevölkerung werde hauptsächlich von den staatlich kontrollierten Medien geleitet und Menschenrechte würden neben dem Glauben keine Rolle spielen, so Dr. Akgüns Einschätzung. Der Wahlkampf Erdogans sei ein „Angstwahlkampf“ gewesen; er habe suggeriert, ein Sieg der Oppositionsparteien wäre ein Ende des Islams und der nationalen Einheit. Die wirtschaftlich prekäre Situation sei der Preis („bedel“), den die Bevölkerung für den Glauben und die Einheit der Nation zu zahlen habe.
In Großstädten wie Ankara und Istanbul, in welchen die CHP eine Mehrheit an Unterstützern habe, sei die Bevölkerung unter anderem wegen eines besseren Zugangs zu sozialen, freien Medien und Bildung eher westlich ausgerichtet. Doch Erdoğans religiöse Rhetorik fruchtet, und das auch über die türkischen Grenzen hinaus. Nach seinem Wahlsieg wurde er unter anderem in Deutschland gefeiert, zumindest unter den über 67 % der Deutschtürken, die für ihn gestimmt haben. Für Dr. Akgün steht diese Zahl nicht unbedingt für eine misslungene Integration, sondern eher für eine starke Propaganda Erdoğans in Deutschland, bei welcher besonders religiöse Organisationen wie DİTİB als religiöser Verbund, eine zentrale Rolle spielen würden. Rasim Marz betont, dass Erdoğan eine Lücke nutze, die die unzureichende Integration ihm lasse. Rassistische Übergriffe und Narrative würden einen Gegenpol zu der islamischen Gemeinde in einer Moschee bilden und dies sei, genauso wie das Elternhaus, ein relevanter Faktor für die Sozialisation junger Deutschtürken. „Letzten Endes ist es auch eine Frage der Identität und da schlägt Erdoğan genau in die Kerbe hinein, indem er seine Hand seit Jahren ausstreckt und symbolisiert, dass die Türkei immer an ihrer Seite steht, wenn es Europa nicht tut“, so Marz.
Welcher außenpolitische Kurs ist zu erwarten?
Kann sich die Türkei unter diesen Umständen noch einmal an Europa, an die Europäische Union annähern? Und wie sieht es mit dem westlichen Verteidigungsbündnis, der NATO aus? Historiker Marz macht deutlich, dass auch einige Transatlantiker in dem neuen Kabinett säßen, aber Erdoğans außenpolitische Bemühungen, eigene Interessen auch gegen Bündnisinteressen durchzusetzen, weiterhin groß seien. In dem aktuellen Krieg in der Ukraine nehme er zwar keine eindeutige Stellung, spiele aber immer wieder mit der Nähe zu Russland. Im Rahmen der NATO nutze er seine Machtposition, um immer wieder Druck für eigene Interessen aufzubauen, so zuletzt auch bezüglich Schwedens Beitritt.
Auch sein Einfluss in der europäischen islamischen Welt sei weiterhin groß – zum Beispiel in islamischen Bereichen des Balkans. Gespielt würde dort oft auch mit Großmachtfantasien des Osmanischen Reiches. „Das, was Erdoğan den Leuten präsentiert, ist Disneyland“, so Akgün diesbezüglich, mit der Realität habe es nichts zu tun.
Zu dem aktuell noch bestehenden Status der Türkei als Beitrittskandidat der EU sind sich die beiden Experten einig: Es sei nur noch eine Formalie, dass die Beitrittsverhandlungen komplett abgebrochen werden. Dr. Akgün zufolge sollten die Beziehungen der EU zur Türkei in der momentanen Lage generell auf den Prüfstand, da Erdoğan keinen zuverlässigen Partner darstelle – weitere Verhandlungen seien viel zu mühselig und würden nur zu mehr Konflikten und Blocken in der EU führen.
Text: Leslie Deák