Die große Lücke der EU – Beitrittsperspektiven auf dem Westbalkan (13.09.2023)
Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien und Kosovo – auf mehreren EU-Westbalkan-Gipfeln wird zum Teil seit zwei Jahrzehnten um die Beitrittsperspektiven der Westbalkanstaaten gerungen. Fünf der Länder verfügen schon über den Status „EU-Beitrittskandidat“, Verhandlungen laufen bereits mit Serbien und Montenegro, Kosovo gilt bis dato nur als „potenzieller Beitrittskandidat“. Doch der Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten stagniert und währenddessen versuchen Staaten wie Russland, China oder die Türkei ihren Einfluss in der Region auszubauen. Mehr als Anlass genug, die Situation auf dem Westbalkan zu diskutieren: Am 13. September haben wir deshalb mit Dr. Vedran Dzihic, Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik und Lektor an der Universität Wien, über die Beitrittsperspektiven, Herausforderungen und Stimmung der Bevölkerung des Westbalkans gesprochen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Cassandra Speer.
Wie hat der EU-Beitritt von Slowenien und Kroatien die Perspektiven des Beitritts der Westbalkanstaaten ausgewirkt?
Zunächst hielt Dr. Dzihic fest, dass mit Kroatien und Slowenien bereits zwei Länder in der unmittelbaren Nachbarschaft des Westbalkans in den vergangenen Jahren EU-Mitgliedstaaten geworden sind. Hierdurch habe sich eine sehr komplexe Dynamik entwickelt. „Der Gedanke, die Westbalkanstaaten hätten dadurch ausschließlich weitere Verbündete innerhalb der Europäischen Union gewonnen, ist naiv.“, so Westbalkan-Experte Dzihic. Bei Slowenien sei dies zwar der Fall und das Land sei eine treibende Kraft im Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten, im Fall von Kroatien sehe es jedoch anders aus. Zwischen Serbien und Kroatien herrsche bereits seit dem 19. Jh ein historisch angespanntes Verhältnis, welches bis heute anhält. Aus diesem Grund habe Kroatien den Beitrittsprozess Serbiens bislang immer wieder blockiert. Wie von der Leyen in ihrer ‚State oft the Union‘-Rede am Vormittag vor unserer Veranstaltung angesprochen hat, müsse man den Beitrittsprozess und Abstimmungsprozess seitens der EU reformieren, um die Union zu vollenden.
Wie ist der aktuelle Stand und die Stimmung der Bevölkerung zum EU-Beitritt in den einzelnen Ländern?
Der Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten umfasst vor allem Reformen, die in den einzelnen Staaten umgesetzt werden müssen, bevor diese der EU beitreten können. „Man muss bedenken, dass die gesamte Region zwar sehr klein ist, die einzelnen Konstellationen in den Staaten seien aber ausgesprochen komplex“, betont Dr. Dzihic. Ein großer Störfaktor sei die Langwierigkeit des Prozesses, der den Glauben an die EU-Mitgliedschaft in den Staaten selbst habe schwinden lassen. Das zweite Problem sei das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“, das die Notwendigkeit einer mehrfachen Transformation in vielen Bereichen meint. „Hier ist eine Transformation von Krieg in den Friedenszustand, von einem autoritären in einen demokratischen Staat und von einer staatlichen Wirtschaft in die Marktwirtschaft nötig“. Das alles seien bereits komplizierte Prozesse, wobei Themen wie Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit, Funktionen der Institutionen und die Frage der Versöhnung noch nicht mit inbegriffen seien. Außerdem sei die Demokratisierungseuphorie, die nach 1989 ausgebrochen ist, seit der Finanzkrise in eine Autokratisierungs-Phase umgeschlagen, was die Reformierung der Staaten noch weiter erschwere.
Im Beispiel von Serbien stellt Dr. Dzihic zudem heraus, dass Präsident Vučić die antieuropäische Stimmung im Land selbst schüre, weil er sich die Beziehung zu Russland offenhalte und wirtschaftlich auf China setze. In Bezug auf die Beziehung zu Russland versuchen beide Länder voneinander zu profitieren. Auf der Seite von Serbien profitiere man durch die Nähe zu Russland, da Putin bei der serbischen Bevölkerung sehr beliebt sei. Auf der Seite von Russland profitiere man, indem man im Westen seine geopolitische Macht ausbauen könne. Ähnlich verhalte es sich mit China. Vučić könne durch infrastrukturelle Investitionen seitens China von einem goldenen Zeitalter in seiner Amtszeit sprechen und China könne dadurch im europäischen Raum Fuß fassen.
Inwieweit steht der Nationalismus auf dem Westbalkan dem Beitritt im Wege?
„Nationalismus ist ein Gift für Europa. Nicht nur am Balkan, sondern immer, wenn es in Europa einen Anstieg der Nationalismen gab, hat die europäische Idee darunter gelitten“, hält Dr. Dzihic fest. Auf dem Westbalkan gebe es hauptsächlich zwei große nationalistische Konfliktfelder, zum einen zwischen Serbien und dem Kosovo und innerhalb von Bosnien-Herzegowina. Die Stationierung der Nato-Truppen in Krisengebieten sorge dafür, dass der Westen bei neuen Spannungen schnell reagieren könne. Dr. Dzihic verweist aber darauf, dass die lange Stationierung der Truppen in diesem Gebiet ein Hinweis darauf sei, dass im Kosovo weiterhin politische Instabilität herrsche. Dasselbe gelte für den Hohen Repräsentanten, dessen Ernennung nach dem Krieg in Bosnien-Herzegowina notwendig gewesen sei. Die Tatsache, dass er immer noch existiert, weise auf eine schwierige politische Lange hin und zeige, dass man es versäumt habe, den Staat politisch von innen heraus zu reformieren, was einen EU-Beitritt aktuell unmöglich machen würde.
Neue Maßnahmen in sich verändernden Zeiten
Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sorgte auf dem Westbalkan für neue Sichtweisen, so Dr. Dzihic. Die schnelle Vergabe des Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine und Moldau habe für Unmut gesorgt. Andererseits lasse sich sagen, dass die neue Situation, die durch den Krieg in der Ukraine entstanden ist, die Erweiterungsdebatte in der EU wiederbelebt hat. Das bedeute aber nicht, dass die großen Systemfragen der Erweiterung damit geklärt sind. Viele Fragen zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten seinen seitens der EU noch ungelöst. Beispielsweise ob das Abstimmungsprinzip reformiert werden muss oder die Frage nach dem Budget. Westbalkan-Experte Dr. Dzihic ist sich aber sicher: „Die Erweiterung wird letztendlich eine politische und geopolitische Entscheidung sein und keine Entscheidung, die strikt nach einzelnen Kriterien getroffen werden wird.“