Europa und die Türkei – eine strategische Partnerschaft im Umbruch (12.03.2021)

Europa und die Türkei – eine strategische Partnerschaft im Umbruch (12.03.2021)

Vertrauensverlust im kollektiven Gedächtnis und trotzdem geopolitisch abhängig voneinander – die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und einem ihrer wichtigsten Nachbarstaaten, der Türkei, befinden sich im Umbruch. Der Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei Rasim Marz lieferte hierzu am 12. März in unserer Online-Veranstaltung in Kooperation mit JEF NRW spannende Hintergründe. Marz informierte zunächst die rund 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Geschichte des Osmanischen Reiches, deren Einfluss auf die heutigen Einstellungen und Überzeugungen der Türkinnen und Türken und die Rolle der Türkei in der Geopolitik der Welt. Anschließend diskutierte er mit ihnen auch über aktuelle innenpolitische Entwicklungen der Türkei und die Beitrittsperspektive zur Europäischen Union.

Historiker Rasim Marz erklärte in seinem Vortrag die aktuellen EU-Türkei-Beziehungen mit einem Rückblick in die Geschichte. (Foto: Copyright Rasim Marz)

Die Geschichte des Osmanischen Reiches: Kollektives Gedächtnis hat Einfluss auf heutige Politik

Mit einem Exkurs in die Geschichte erklärt Marz das heutige politische Handeln der Türkei: Das Osmanische Reich, gegründet im 14. Jahrhundert, dehnte sich über drei Kontinente hinweg aus und erstreckte sich bei seiner größten Ausdehnung im 17. Jahrhundert über Vorderasien, Südosturopa und Ostafrika. So spielte es über Jahrhunderte hinweg eine sowohl politische als auch eine militärische und wirtschaftliche Großmachtrolle in Europa. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde 1920 der Vertrag von Sèvres von den Siegermächten, darunter Frankreich und Großbritannien, und dem Osmanischen Reich unterzeichnet, wodurch das Osmanische Reich einen Großteil seines beanspruchten Territoriums verlor und letztlich der Untergang besiegelt wurde. „Die Unterzeichnung wird heute immer noch als Demütigung durch Europa empfunden“, erklärt Marz. 1923 gründete Kemal Atatürk die heutige Republik Türkei „aus den Resten des Osmanischen Reichs“.

Auch der Staatsbankrott im Jahr 1875 hat Auswirkungen auf die heutige Finanzpolitik der Türkei: Durch die historische Erfahrung der Überschuldung weigere sich die Türkische Republik bis heute Staatskredite beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufzunehmen. Der Referent betont, dass die finanzielle Unabhängigkeit eine der wesentlichen Säulen der türkischen Finanzpolitik ist, da die Verschuldung bis heute ein Trauma in der (türkischen) Bevölkerung sei. „Wir haben ein stark eurozentristisches Weltbild, das das 19. Jahrhundert komplett ausblendet. Beide Seiten müssen sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, um die Hürden der Geschichte zu überwinden“, schließt der Historiker den Exkurs in die Geschichte ab.

EU-Beitritt rückt durch neue Partnerschaften immer weiter in den Hintergrund

Marz spult nun in seinem Vortrag ein Jahrhundert nach vorne: Seit 2005 verhandelt die Europäische Union mit der Türkei über einen Beitritt in den Staatenverbund. Die vertragliche Geschichte zwischen der Türkei und dem Vorgänger der EU, der EWG, reicht jedoch bis ins Jahr 1963 zurück. Die EWG und die Türkei beschlossen ein Assoziierungsabkommen für eine enge wirtschaftliche Verbindung und errichteten 1995 eine Zollunion.

Die heutige türkische Außenpolitik beschäftigt sich laut Marz insbesondere mit alten Territorien des Osmanischen Reiches, was eine strake Überschneidung mit EU-Beitrittskandidaten in Süd-Ost-Europa bedeute. Aber auch mit anderen Staaten des ehemaligen Osmanischen Reichs versuche die Türkei Beziehungen zu erhalten und wieder aufzubauen, auch, um das Erbe des Reichs wieder ins Gedächtnis zu rufen. Hier liegt der Fokus vor allem auf Libyen und Syrien. Insbesondere in Syrien sei die EU jedoch auf die Hilfe der Türkei angewiesen. Die Flüchtlingsfrage beschäftige die EU seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in dem Nachbarstaat der Türkei. Die EU sei froh, dass die Türkei hier bei der Eindämmung der humanitären Krise helfe. Rasim Marz macht das vor allem an Zahlen deutlich: Etwa 10 Millionen Menschen unterliegen aktuell türkischen Verwaltungsgebieten, mindestens 3,6 Millionen davon sind aus Syrien in die Türkei geflohen. Während die EU hier auf die Hilfe der Türkei angewiesen ist, sind andere außenpolitische und wirtschaftliche Ziele der Türkei für die EU unverständlich. Aktuell sei hier vor allem der Konflikt zwischen dem EU-Land Griechenland und der Türkei um das Erdgas im Mittelmeer ein Streitpunkt.

Obwohl die Türkei nach wie vor eine EU-Beitrittskandidatin ist, erschließe sie im Osten viele neue Partnerschaften, etwas mit Russland und China. Diese Entwicklung werde seitens der EU mit Sorge beobachtet. Beispielsweise sei die Türkei ein elementarer Bestandteil von Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße und Russland sei massiv an türkischen Prestige-Projekten beteiligt. „Die Türkei entwickelt sich immer mehr zu einem Drehkreuz von russischer Energieversorgung und als Dreh- und Angelpunkt chinesischer Projekte“, erläutert Türkei-Experte Marz. Die Türkei bewege sich in vielen geopolitischen Fragen zwischen den einzelnen großen Akteuren EU, Russland und China und sei deshalb so eingebunden, dass weder die EU noch Russland oder China auf sie verzichten könne. So schaffe sie es, dass die eigenen Interessen für und in der Region erfolgreich durchgesetzt würden. Die Türkei habe sich zu einer unverzichtbaren Regionalmacht entwickelt. Bei all diesen Entwicklungen von neuen Partnerschaften sei der EU-Beitritt vorerst in den Hintergrund gerückt.

Fragerunde der Zuschauenden: EU-Beitritt und Politik von Erdoğan im Fokus                

Im anschließenden lebhaften Austausch fragte zunächst eine Zuschauerin nach „dem größten Hemmschuh bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU und einem guten Auskommen zwischen EU und der Türkei“. Marz‘ Replik: Hier sei vor allem das kollektive Gedächtnis und der stark in die Vergangenheit gerichtete Blick der Türkei ein „Hemmschuh“. In der EU werde weniger in die Vergangenheit als in die Zukunft geschaut, obwohl es nicht nur in der Türkei Vorwürfe gegen europäische Politik im 19. Jahrhundert gebe. So fühle sich die Türkei nicht respektiert und man bewege sich in der Konsequenz auf anderen Ebenen, vor allem auch auf einer anderen Kommunikationsebene. Außerdem ergänzt Marz, dass ein fester Bestandteil der türkischen politischen Kultur die Macht des Staates sei, der massiv in das soziale Leben der Türk:innen eingreife. Diese politische Kultur müsste sich für einen EU-Beitritt ändern.

Auch weitere Themen, wie den Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016 und die Situation von in Deutschland lebenden Türk:innen, ordnete Marz im Austausch mit den Teilnehmenden ein. Der offene Rassismus hierzulande, soziale Ungleichheit und auch der NSU-Terror hätten das Vertrauen in den deutschen Staat „bis ins Mark erschüttert“. Viele würden sich heimatlos fühlen und hätten sich der türkischen Politik näher zugewandt, so der Historiker.

Am Ende nahm die Diskussion nochmals Kurs auf die Beitrittsperspektive der Türkei zur Europäischen Union. Die Zukunft der EU-Türkei-Beziehungen sei so offen wie lange nicht mehr, schloss Historiker Marz: Mit dem Abgang von Angela Merkel verliere Erdoğan eine wichtige Stimme in der europäischen Politik. Gleichzeitig würde eine Nachfolgeregierung von Erdoğan mit Sicherheit neue Impulse in Richtung EU-Beitritt setzen.

Wir bedanken uns bei Rasim Marz für den informativen Vortrag und bei seinem Publikum für die rege Beteilung!