Zwei Jahre russischer Angriffskrieg: Wie geht es weiter in der Ukraine? (07.03.2024)
Bereits seit über zwei Jahren wütet in der Ukraine der russische Angriffskrieg. Zum dritten Mal seit dem Beginn des Konflikts zogen wir in einer Online-Veranstaltung mit Gemma Pörzgen, Chefredakteurin der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven (OWEP) und Politikwissenschaftler Siebo Janssen Bilanz. Wie ist die aktuelle Situation an der Front? Ist die Unterstützung des Westens auch in Zukunft gesichert? Und wie stehen die Chancen auf Frieden in der Ukraine? Unter anderem diesen Fragen gingen wir in der von Jochen Leyhe moderieren Diskussion nach.
Zwei Jahre nach dem Einmarsch: Putins Plan ist nicht aufgegangen
In einem Rückblick auf die ersten Wochen des russischen Angriffskrieges vor zwei Jahren unterstrich Jochen Leyhe gleich zu Beginn, dass mit der russischen Invasion die längste Friedensperiode – mit Ausnahme der Balkankriege – auf dem europäischen Kontinent zu Ende gegangen sei: „Wir befinden uns in einer sicherheitspolitischen Zeitenwende, wie es sie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gab. Journalistin Gemma Pörzgen erläuterte, dass dieser Bruch der europäischen Sicherheitslage bis kurz vor dem Angriff Russlands undenkbar gewesen sei: „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Putin so weit gehen würde, Kiew anzugreifen.” Auch Politikwissenschaftler Siebo Janssen beschrieb, wie er und viele andere dachten, dass es ein lokalisierter Konflikt im Donbas bleiben würde. Putins ursprünglicher Plan eines kurzen Krieges und schnellen politischen Umsturzes der Ukraine sei jedoch von Anfang an unrealistisch gewesen. Mit der Solidarität des Westens und auch dem Kampfeswillen der Ukrainer:innen habe der russische Machthaber nicht gerechnet. Dies werde auch zwei Jahre nach dem Einmarsch trotz der anhaltenden brutalen Kämpfe deutlich, analysierten unsere Referent:innen.
Die Unterstützung des Westens steht in Frage
Die Solidarität und Hilfe des Westens in den vergangenen zwei Jahren habe es der Ukraine erst ermöglicht, effektiv und dauerhaft Widerstand zu leisten, die momentane Situation an der Front sei jedoch größtenteils als Stellungskrieg ohne größere Gebietsgewinne zu bezeichnen, erklärten die Referenten. Gemma Pörzgen zog in der Art der Kriegsführung einen Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg. Siebo Jannsen wies aber darauf hin, dass der Einsatz von Drohnen die Kampfhandlungen sehr wohl zu einem Krieg des 21. Jahrhundert mache. Er erklärte zudem, dass der Krieg nach der gescheiterten Offensive der Ukraine im vergangenen Sommer nun an einem toten Punkt angekommen sei. Auch wenn die russische Seite weiterhin nicht zu weitreichenden Offensivoperationen in der Lage sei, so sei die Ukraine weiterhin auf westliche Militärhilfe angewiesen, um die Stellungen an der Front überhaupt halten zu können. Hier sei es entscheidend, dass man sich in Europa, aber auch in den USA vor den Präsidentschaftswahlen über eine langfristige Strategie einig werde.
Innenpolitische Debatten: Trump in den USA, Taurus in Deutschland
Die USA sind mit weitem Abstand der größte Unterstützer der Ukraine. Dennoch gibt es immer mehr Anzeichen, dass die US-Bevölkerung kriegsmüde werde, so Siebo Janssen. Dies habe man zuletzt am Veto der Republikaner gegen weitere Militärhilfe für die Ukraine im US-Repräsentantenhaus gesehen. Sollte Trump zudem die nächste Präsidentschaftswahl gewinnen, sei ohnehin alles offen, so der Politikwissenschaftler. Man könne durchaus davon ausgehen, dass die Hilfe der USA für die Ukraine dadurch so gut wie zu Ende gehe.
Den Blick nach Deutschland gerichtet, befinde sich die Bundesregierung zurzeit bei der Debatte über die Entsendung von Taurus-Marschflugkörpern in einer schwierigen Position, so Gemma Pörzgen. Das oberste Ziel von Kanzler Scholz sei es aber, Deutschland vor einer weiteren Eskalation des Krieges zu schützen, erläuterte die Journalistin. Mit Taurus-Marschflugkörpern könnten Ziele in Russland oder sogar Moskau angegriffen werden. Auch wenn die Ukraine zusage, dies nicht zu tun, sollte man sich nicht darauf verlassen, deshalb ist für Pörzgen die Haltung des Kanzlers völlig nachvollziehbar.
Die Europäische Union als einheitlicher Akteur?
Kann die Europäische Union bei der militärischen Unterstützung der Ukraine überhaupt einheitlich auftreten? Politikwissenschaftler Janssen unterstrich, dass es durch den Krieg zwar ein gewisses Momentum für mehr gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU gäbe, aber dass die Staatschefs der beiden größten Länder – Scholz und Macron – in diesen Fragen weiterhin nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dies sei besonders tragisch, da ein neues Erstarken des Weimarer Dreiecks (Deutschland, Frankreich, Polen) ein Motor für mehr europäische Integration sein könnte. Auch die Freude in der Ukraine über den EU-Bewerberstatus habe einen bitteren Nachgeschmack. Bis es überhaupt zu einer Integration der Ukraine in die EU kommen könne, werde sehr viel Zeit vergehen, waren sich unsere Expert:innen einig. Selbst nach einem Friedensschluss stehe die EU vor vielen Herausforderungen, wie sie beispielsweise den Agrarsektor der Ukraine in den EU-Landwirtschaftsmarkt integrieren könne. Siebo Janssen unterstrich zum Abschluss der Konferenz zudem, dass sich durch die schnelle Vergabe des Bewerberstatus an die Ukraine viele Balkan-Staaten vor den Kopf gestoßen fühlten, da diese teils seit mehreren Jahrzehnten auf eine Mitgliedschaft warteten.
Einig war man sich auch, dass die anstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen in Russland wenig Einfluss auf die weiteren Entwicklungen haben werden. Für Pörzgen und Jannsen sind diese reine Farce: „In Russland gibt es keine echte Opposition mehr. Alle echten Oppositionellen sind entweder in Haft, im Exil, zerstritten oder – leider nun auch mit Blick auf Alexej Nawalny – tot.”