Zwischen Nationalismus und Aufarbeitung: Ist Serbien auf dem Weg in die Europäische Union? (20.09.2021)

Zwischen Nationalismus und Aufarbeitung: Ist Serbien auf dem Weg in die Europäische Union? (20.09.2021)

Die aktuelle Lage in Serbien ist von starken Spannungen geprägt. Präsident Vučić hält die Bevölkerung fest in seiner Mangel, während er ein doppeltes Spiel zwischen der Europäischen Union, Russland und China treibt. Der Nationalismus tobt, aber das nicht nur in Serbien, sondern in allen Westbalkan-Staaten. Die Aufarbeitung der Verbrechen aus den Kriegen der 90er Jahre lässt zu wünschen übrig. Wie soll ein Land, das so mit seiner eigenen Vergangenheit und Gegenwart zu kämpfen hat, bereit sein, der EU beizutreten? Darüber sprachen wir am 20. September 2021 mit Prof. Dr. Katarina Popovic, serbische Aktivistin gegen das aktuelle Regime, und Siebo Janssen, Experte für Politik und die Balkan-Kriege der 90er Jahre. Die Moderation übernahm Jochen Leyhe.

Die serbische Demokratiebewegung der 90er Jahre

Katarina Popovic war in den 90er Jahren an vorderster Front bei den Massendemonstrationen gegen das Regime von Slobodan Milošević dabei. Am Montag erzählte sie uns von der damaligen Situation in Serbien und im Rest des Balkans. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges stand Jugoslawien unter der Herrschaft von Josip Broz Tito, der das Land erfolgreich autoritär geführt hat. Schon zu seiner Zeit gab es nationalistische Tendenzen in den Teilrepubliken, die allerdings von Tito unterdrückt wurden. Nach dem Ende seines Regimes gab es keinen adäquaten Nachfolger und Milošević kam an die Macht. Unter seinem Regime kam es zur Spaltung des Landes Jugoslawiens, zum verstärkten Nationalismus und letztendlich zu den Jugoslawienkriegen. Diese führten brutalste Auseinandersetzungen unter den Teilrepubliken mit sich, bei denen unzählige Menschen ums Leben kamen. Katarina Popovic stand damals an erster Stelle und protestierte gemeinsam mit bis zu einer Million Menschen gegen Milošević. Sie erzählte von den gefährlichen monatelangen Protesten, bei denen sie auch in Konflikte mit der Polizei geriet. Als die internationale Presse dann vor Ort war, konnte die Regierung nicht mehr gewaltsam gegen die Demonstranten vorgehen und Milošević trat am 05. Oktober 2000 zurück. „Das war der glücklichste Tag meines Lebens“, sagte Popovic. Milošević wurde dann als Kriegsverbrecher vor ein Gericht in Den Haag gestellt, doch er verstarb vor dem Abschluss des Tribunals.

Wie ist die Lage heute im ehemaligen Jugoslawien?

Heute wird Serbien von Aleksandar Vučić regiert, der in seinem Regierungsstil einige Gemeinsamkeiten zu Milošević aufweist. Popovic erklärt, dass Vučić nur auf Macht aus ist. Er hat die Coronavirus-Pandemie zu seinem Vorteil genutzt und die Bevölkerung auf seine Seite gezogen. Während er seine Macht schamlos ausnutzt und das Land ohne Rücksicht auf die Bevölkerung regiert, zeichnet er ein paradiesisches Bild von Serbien, das von der Bevölkerung gerne geglaubt wird, auch wenn es nicht der Realität entspricht. Unter Vučić geht es Serbien nicht nur wirtschaftlich schlecht, es gibt auch einen Mangel an Demokratie, an Freiheit und an Menschenrechten. Alle anderen Mitglieder der Regierung stehen unter dem Sagen von Vučić und agieren lediglich als seine verlängerten Arme. Ihnen selbst sprach Popovic keinerlei Kompetenz zu, sie werden alle von Vučić manipuliert und instrumentalisiert: „Es gibt keine Menschen mit Integrität in der Regierung.“ Und auch von Seiten der Opposition wird sich wenig gegen das Regime von Vučić eingesetzt, da sie keinerlei Rückhalt in der Gesellschaft haben. Die Medien werden von Vučić kontrolliert und so gibt es kaum freie Berichterstattung über seine Regierung und die Folgen seiner Entscheidungen. In der Bevölkerung macht sich mittlerweile eine Resignation gegenüber der Situation breit. Die Menschen sind es leid, sich zu wehren.

Vučić galt einst als Hoffnungsträger Serbiens, möglichst bald der Europäische Union beizutreten. Doch nun treibt er ein doppeltes bzw. dreifaches Spiel zwischen der EU, China und Russland, so Siebo Janssen. Auf der einen Seite pflegt Serbien enge Beziehungen zur EU und verhandelt weiterhin den Beitritt in die Union. Auf der anderen Seite nähert sich das Land an China und an Russland an und sorgt damit für eine Entfremdung von der EU. Die beiden Länder werden der serbischen Bevölkerung als Freunde präsentiert, während die kleinen Balkanstaaten eigentlich nur für die Machtspiele der größeren Staaten ausgenutzt werden. Russland und China bauen beide in Serbien wirtschaftliche Projekte auf, um dort ihren Einfluss zu stärken und so ein Gegengewicht zur EU zu bilden. Die Beziehungen zu diesen beiden Ländern kann negative Folgen für den Balkan mit sich führen und die Staaten sind auf EU-Unterstützung angewiesen, doch Vučić verfolgt seine eigenen Machtziele, ohne Rücksicht darauf, was für seine Bevölkerung am besten wäre. Eine der Folgen des wirtschaftlichen Einflusses Chinas ist die extreme Umweltverschmutzung in Serbien. In den letzten Jahren ist Belgrad zu einer der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung geworden. Vučić nimmt quasi seiner Bevölkerung die Luft zum Atmen und das Trinkwasser weg, so Popovic. Dazu kommt der immense Nationalismus. Die jüngere Generation strebt an, ihr Land zu verlassen. Sie sagen, in Serbien gibt es keine Zukunft für sie und sie wollen deswegen in einen EU-Staat auswandern, ohne die Absicht, zurückzukehren.

Popovic äußerte des Weiteren harte Kritik an der EU, und vor allem an Deutschland, aufgrund der Untätigkeit gegenüber der Situation in Serbien. Das Land könnte dringende Unterstützung gebrauchen, doch stattdessen wird bloß mit milden Formulierungen auf mögliche Fehltritte verwiesen. Merkel hat während eines Besuch in Belgrad Vučić ein Lob ausgesprochen und positiv über seine Entscheidung gesprochen, mit Lithium zu wirtschaften. Dieser Stoff ist höchstschädlich für die Umwelt und es wurde kritisiert, dass sich Merkel nicht mehr dafür eingesetzt hat, die Situation in Serbien zu verbessern. In der internationalen Berichterstattung wird die Situation im Land generell verharmlost. Anstatt das System als Autokratie, oder gar als Diktatur, zu benennen, wird von einer „hybriden Regierung“ gesprochen, prangerte Popovic an. Ein häufig verwendeter Begriff ist die „Stabilokratie“, doch es kann keine Stabilität in einer werdenden Diktatur geben, so Popovic. Die gab es weder unter Milošević, noch gibt es sie jetzt unter Vučić.

Ein breit diskutiertes Thema während der Veranstaltung war die Frage nach der Aufarbeitung der Vergangenheit in Serbien, aber auch in den anderen Balkan-Staaten. Es kamen Fragen aus dem Publikum, die sich darum drehten, ob Serbien seine Schuld in den Jugoslawienkriegen anerkennt. Es ging um die Genozide in Bosnien und Albanien, um das Massaker von Srebenica, um die Verbrechen gegen den Kosovo. Wie kann das sein, dass sich Serbien nicht zu diesen Taten bekennt? So die Frage aus dem Publikum. Popovic betonte daraufhin die Wichtigkeit, sich zu diesen Taten zu bekennen, und beschrieb die Aufarbeitung der Vergangenheit als eine große Aufgabe für Serbien. Grund für die fehlende Auseinandersetzung ist der Nationalismus, und das nicht nur in Serbien, sondern in allen Balkan-Staaten. Denn obwohl Serbien wohl die Hauptschuld an den Verbrechen der Jugoslawienkriege trägt, aufgrund seiner militärischen Überlegenheit, so haben alle Staaten Verbrechen begangen, die aufgearbeitet werden müssen. Den Nationalismus gibt es in allen Balkan-Staaten. Es läge an Vučić, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, aber stattdessen nutzt er den Nationalismus, um sein Volk für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Janssen sprach davon, dass sich alle Balkan-Staaten mit ihrer Vergangenheit beschäftigen müssen, um gemeinsam in die Zukunft blicken zu können. Die gegenseitige Schuldzuweisung bringt die Region nicht weiter. Nur wenn man die Vergangenheit zusammen aufarbeitet, könne man realisieren, welche Gemeinsamkeiten die Staaten untereinander haben und so den Weg in Richtung EU nehmen.

EU-Beitritt oder privilegierte Partnerschaft?

Serbien gilt bereits seit 2012 als offizieller Beitrittskandidat der EU. Seitdem ist eine lange Zeit vergangen und mittlerweile breitet sich eine gewisse Enttäuschung im Land aus, dass der Beitritt wohl nie gelingen wird. Vučić sollte das Land zur EU führen, doch stattdessen ist es weiter vom Beitritt entfernt als je zuvor. Janssen erklärte, dass Serbien, genauso wie alle anderen Balkan-Staaten, aktuell schlicht nicht beitrittsfähig sind. Um der EU beizutreten, muss ein Staat die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen. Diese umfassen unter anderem, dass ein Beitrittskandidat die Menschenrechte wahrt und über Rechtsstaatlichkeit verfügt, was allein schon zwei Kriterien sind, die von Serbien nicht erfüllt werden. Im Jahr 2003 wäre Serbien wohl näher an einem EU-Beitritt gewesen als es heute ist. Damals wurde diskutiert, alle Westbalkan-Staaten gleichzeitig in die EU aufzunehmen, doch dies ist heutzutage keine Option mehr. Eins der Hauptprobleme, das dem Beitritt im Weg steht, ist die mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit und der Verbrechen aus der Zeit der Jugoslawienkriege. Der Nationalismus in den Balkan-Staaten sorgt für Spannungen und Konflikte, die behoben werden müssen, bevor ein EU-Beitritt überhaupt in Erwägung gezogen werden könnte.

Janssen erklärte weiterhin, dass er die EU aktuell nicht als erweiterungsfähig ansieht. Die aktuellen Probleme der Union, wie in Polen und Ungarn, wo die Rechtstaatlichkeit und die Demokratie gefährdet sind, geben der EU schon genug zu tun, ohne sich noch mit weiteren „Problemstaaten“ auseinandersetzen zu müssen. Die Balkan-Staaten jetzt aufzunehmen, könnte die EU überstrapazieren. Janssen sieht jedoch die Möglichkeit einer privilegierten Partnerschaft als eine Art Übergangslösung bis die Defizite auf dem Balkan behoben sind. Diese würde eine gewisse Bevorzugung, zum Beispiel auf wirtschaftlicher Ebene, mit sich führen und eine Annäherung zur EU darstellen, ohne einen vollen EU-Beitritt notwendig zu machen. Das Land müsste auch nicht weiterhin in der aktuellen Ungewissheit leben, ob der Beitritt nun klappt oder nicht. Außerdem würde eine gewisse Perspektive geboten werden und ein Beitritt generell ins Mögliche gerückt, auch wenn er aktuell in naher Zukunft unwahrscheinlich ist. Diese Option der privilegierten Partnerschaft würde also die Ablehnung der EU von Seiten Serbiens verhindern und gleichzeitig das Land der EU annähern.

Wir bedanken uns herzlich bei unseren Gästen für ihre Beiträge und bei unserem Publikum für die rege Beteiligung.

 

Text: Dorothea Ullrich